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				wurde nach einem Original gedruckt,
				das Aubrey Beardsley für Willy Helwig,
				Werner Helwigs Vater, entwarf.



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B  R  I  E  F  E  von Werner Helwig



Nicht ins Leere geschrieben

Werner Helwig im Spiegel seiner Briefe

Briefe aus dem Nachlaß


„Der Mensch Helwig galt und gilt vielen als zuverlässiger Freund und Kamerad, unter ihnen Hans Henny Jahnn, dem er lebenslang verbunden war, Theodor Däubler, Hermann Hesse, Kurt Heynecke, Richard Seewald, Ernst Kreuder, Rolf Bongs, und unter den jüngeren Walter Helmut Fritz, Peter Jokostra. Eine Tafelrunde, die in ihrer Widersprüchlichkeit nicht leicht ihresgleichen fände, aber zum reichfacettierten Charakter Helwigs gut paßt“ - Günter Schulz in einer Würdigung zu Helwigs 70. Geburtstag. Dieser Tafelrunde könnten noch viele andere zugerechnet werden: von Helwig zeitweise oder dauernd Verehrte, über die er geschrieben, sowie viele, mit denen er korrespondiert hat.
Helwig hat eine Korrespondenz von immensem Umfang hinterlassen, darunter Briefwechsel, von denen jeder für sich wert wäre, veröffentlicht zu werden. Bei den folgenden Texten* handelt es sich um eine kleine Auswahl bisher unveröffentlichter, z. T. gekürzter Briefe, die Werner Helwig an die Tafelrundenmitglieder Jahnn, Seewald, Bongs und Fritz sowie – in Erweiterung der genannten Tafelrunde – an Monika Mann und Ernst Jünger geschrieben hat und die etwas von seinem „reichfacettierten“ Charakter deutlich werden lassen, aber auch etwas von dem, was Gerda Helwig über den Briefschreiber Helwig gesagt hat: „Seine Briefe bilden eine Art Ergänzung zum Werk, ja man könnte sagen, sie verstünden sich fast als Kommentar dazu. Die Briefe sprechen vom immerwährenden Pech, das diesem Mann verschwistert war, als wäre es seine eigentliche Lebenshaut.
Das begann in frühester Jugend, dank den verklemmten Familienverhältnissen, die seinen Eintritt in die Welt „begründeten“. Das bestimmte seinen Weg durch die Jahre in jeder Seins-Minute.
Die Briefe, gegen Ende seines Lebens immer dichter werdend, zeigen sein Leben, das er in ununterbrochener Anstrengung wider alle Hindernisse in Kunst übersetzt hatte, in Wortkunst, die jeden Moment ins Bild, in Sprache brachte“.
Ursula Prause

*Rechtschreibung und Zeichensetzung (inklusive Abkürzungen, Auslassungszeichen und Hervorhebungen) wurden weitgehend beibehalten. Das schreibmaschinenbedingte ss (statt ß) wurde rückgängig gemacht. Auslassungen aus dem Originaltext sind gekennzeichnet durch (...).










Werner Helwig an seinen Vater Willy Helwig

[ Willy Helwig (* 1879 in Hamburg, † 1957 in Berlin), Kunstmaler, Graphiker, Illustrator und Lehrer an der Berliner Kunstschule; verheiratet mit Jakobine Helwig, geb. Wiencken (1879 - 1968); erhielt nach der Scheidung 1917 das Sorgerecht über seinen 12-jährigen Sohn Werner; heiratete 1921 die Kunstmalerin und Illustratorin Hanna Goerke.]


(Die ersten Briefe sind in deutscher, ab 1928 in lateinischer Schrift abgefasst.)

Hamburg, d. 22. Feb. 25

Lieber Vater
die Zeit ist nun reif, so dass mich nicht weiter Scham abhält, dir zu schreiben. Ich versuche nun die immer nur geahnte Brücke sehbar über alle Mißverständnisse zu wölben.
Ich bin allein und selbstständig. Es ist mir keines Menschen Hilfe oder Tat mehr nötig. Ich trage nur Verlangen, meinen Vater wieder zu erhalten (...)
Ich grüße dich und meine fremde Mutter
Werner


Hamburg, den 25. 3. 25

Lieber Vater
dein Schweigen ist mir durchaus verständlich. Der Sprung von dem dummen Jungen zum wissenden Jungen ist zu groß und will erst gemessen und erwogen sein. Ironie und Verachtung ist immer das Nichteingestehenwollen eines Unvermögens, die Welt und alle Dinge größer zu erfassen. Ich halte mich für den Einzigen, der die geheime Verankerung all deiner Schönheiten und Gemeinheiten im Welthintergrund zu erkennen vermag; und ich bin der Einzige, der dich immer wieder verteidigt gegen die Anwürfe fetter Bürgerlichkeit. Ich werde warten, bis du mich brauchst.
dein Sohn Werner



Schloss Waldeck (Hunsrück), den 6. Nov. 28

Lieber Vater.
(...) Jetzt bin ich wieder zuhause.
Es ist hier ein wundervoller Herbst im Gange. Ich muss sagen, dass mir solche Farbenvielfalt bisher noch selten vorgekommen ist.
Auf ganz hohem Plateau liegt mein Garten. Mit einem Blick kann ich den ganzen Horizont abmessen über weite Täler, Wasserschluchten, nackte Felsen hin.
Es ist unglaublich schön hier.
Ich möchte fast sagen, dass sich in diesem Gebirge die ganzen landschaftlichen Möglichkeiten der Erde erschöpfen.
Es ist heute der erste Schnee gefallen. Das Schloss sieht eigenartig aus, so abgefegt, von einer gewissen kalten Sauberkeit. Trotzdem mein Kamin jetzt bollert, sind mir die Hände immer noch nicht recht aufgetaut.
Ich wünschte, dass Du mal hier in meinem Zimmer säßest, bei meinem guten russischen Tee und bei orientalischen (echten) Zigaretten. Wie gut könnten wir miteinander reden. Ich habe auch viele schöne Altertümer hier gesammelt (...)
Ich habe eine große Liebe zu Dir und ich wünschte, dass Du alles Frühere von mir vergäßest. Aber Du wirst von einem gewissen Misstrauen nach so viel Enttäuschung doch schwer lassen.
Vielleicht gelingt dies aber: dass sich alles langsam wieder zurechtwachse und ich eines Tages wieder zu Dir gehöre, so wie es sein müsste zwischen Vater und Sohn (...)
Hoffentlich bist Du nicht böse, wenn ich Dich bitte, mir eines von Deinen Bildern zu schenken (...) Denke doch – ich habe nicht ein einziges Original von Dir, nur Ausschnitte aus Witzblättern (...)


Schloss Waldeck, den 11. 12. 28

Lieber Vater.
(...) Augenblicklich fülle ich rastlos die Lücken auf, die meine Bildung aufweist. Und es geschieht oft, dass ich bis 2, 3 Uhr nachts arbeite.
Die Mythologie reizt mich am meisten. Ich habe mir in einem dicken Bande alle auftreibbaren Welt- und Gottentstehungsmythen notiert und bin jetzt dabei, die Einheit in all diesen Sagen aufzudecken.
Es ist all dies so wundervoll, dass ich wohl über 100 Jahre werden möchte, um alles in mich aufzunehmen.
Ich habe einen Briefwechsel mit dem berühmten Mythologen R. Pannwitz aufgenommen, der merkwürdigerweise meine Findungen beachtet. Das macht mich natürlich sehr stolz, so dass ich immer tiefer (angespornt) in diese Materie eindringe (...)
Übrigens, Weihnachten werde ich im Kloster Maria Laach verleben; es liegt genau meinem Wohnsitz gegenüber auf der anderen Seite der Mosel (...)


Waldeck, 27. Dezember 1928
Lieber Vater.
(...) Die Feier in Maria Laach war sehr gut. Die große Messe von Praetorius. Der gregorianische Choral. Alles sehr sehr tiefe Musik.
Wenn es nicht der Katholizismus wäre und die ewige, grässliche Moral aus Ressentiment, dann könnte man selbst heute noch Mönch werden (...)
Du bemerkst in Deinem Brief: Die vergleichende Mythologie sei, da schon erschöpfend geübt, eine müßige Sache. Schön. Du vergisst dabei, dass für jeden heranwachsenden Menschen die Welt eine durchaus neue Sache ist, die er Schritt für Schritt entdeckt und erobert.
Um zu wissen, wie man ein schönes Mädchen bekommt, genügt es nicht, Balzac oder Casanova zu lesen, weil die das verstanden, sondern das Tun ist das Schöne. Um die Welt zu verstehe, genügt es nicht, Locke, Leibnitz oder Spinoza zu lesen, weil diese sie wirklich erschöpfend formulierten, sondern man muss doch schließlich von sich aus die Dinge sehen. Und nicht über den Mittler.
Das wird doch immer wieder so sein. Es wird immer wieder trotz Goethe, Dante gedichtet, trotz Rembrand gemalt, trotz Platon gedacht (...)
Und dass ich mich mit Mythologie beschäftige, weil ich da wirklich Wunder von Schönheit und symbolischer Weltdeutung finde, hat noch darin sein Gutes, dass ich mich gezwungenermaßen mit den klassischen Sprachen befassen muss (...)


Waldeck, den 17. 1. 29
Lieber Vater.
Es tut mir leid, dass ich durch mein Betragen mir ein Buchgeschenk verscherzt habe (...)
An Deinem Brief merke ich, dass eine schriftliche Unterhaltung sehr schwer ist (...)
(...) ich kaue nicht wissenschaftliche Werke über Mythologie wieder, sondern ich wende mich an den Mythos direkt. Und ich glaube, dass der „Mythos“ gar nichts mit Wissenschaft zu tun hat, aber alles mit Kunst und Dichtung.
Weiter: Du zweifelst meine Aufnahmefähigkeit (im Fall Tagore) an. Ich kann Dir nur versichern, dass es mir gar nicht möglich ist, „nur zu lesen“. Wenn der zündende Funke nicht springt, lege ich jedes Buch beiseite (...)
Verzeih, dass ich mich so verteidige, aber ich fühle mich angegriffen in meiner Position. Du glaubst, ich würde meine Urteile räubernd zusammenlesen und ich würde ziellos in allem Möglichkeiten herummanschen, anstatt mich durch Fachliteratur weiterzubringen. Ich aber habe das einzige Bestreben, die Erde und ihre ganz große Vergangenheit, so weit es möglich ist, in mein Bewusstsein aufzunehmen und ich empfinde während dieses Aktes Glück und Bereicherung (...)


W., den 17. 2. 29
Lieber Vater.
Durch die Kälte, zugefrorenen Rhein und Mosel, sind die Postverkehrsverhältnisse hier sehr eingeschränkt: Der Briefträger kommt ganz unregelmäßig nur jeden 2. oder 3. Tag.
Waldeck liegt sehr einsam. Von allen Bahnlinien je immer 30 bis 40 km entfernt. Ich schreibe Dir also zur Sicherheit schon heute und sende Dir meine besten Wünsche zu Deinem Geburtstag am 24. 2. (...)
In meiner Bude habe ich einen offenen Kamin und einen eisernen Ofen, beide muss ich fast durchgehend heizen. Stühle und Tisch habe ich rausgeschmissen und mich ganz „persisch“ auf der Erde vorm Kamin eingebaut. Türen und Fenster sind mit dicken Decken verhangen. Eine bunte Ampel, die ich mir selber gebaut habe, hängt tief über der Erde. Es ist sehr mollig. Nur muss ich immer sorgen, dass Alkohol und Tabak nicht ausgehen. Es gibt jetzt kaum Arbeit. Sehnsüchtig warte ich auf Tauwetter, damit ich die Mistbeete richten kann und das Frühgemüse aussäen (...)
Ich lese jetzt Friedrich Huch „Enzio“ (...) Werke einer schauderhaften Resignation. Man ist immer ganz taub, wenn man aus so einem Buch wieder auftaucht.
Die ganze Generation der heute 40- bis 50jährigen scheint zu dieser müden, lichtlosen Schwermut zu neigen. Th. Mann, Hesse, Hamsun, Wassermann - alles Kerle, deren Bücher große Auflagenziffern haben und von der literarischen Masse verschlungen werden. Wie viel Untergangs-, Weltmüdigkeitsstimmung muss das ergeben. Mit einem gewissen abstandhaltenden Interesse kann man sie ja lesen, aber mitmachen - nee! Trotzdem sie sicher große Künstler sind (...)
Ich glaube aber, dass es Werke gibt, die nicht Literatur sind, sondern, wenn man so sagen kann, Nahrung. Das Schönste gibt es da sicher in der orientalischen Dichtung. Besonders Dschelaleddin Rumi. Einen Teil dieser Sachen hat Goethe ja großartig nachgeschaffen in seinem Westöstlichen Diwan. Wenn ich mir nicht selber den Kram verdorben hätte, würde ich sicher orientalische Sprachen studiert haben. Am liebsten allerdings würde ich Sinologe geworden sein


(Postkarte aus Norwegen mit Stempel 24. X. 29)
Lieber Vater
verzeih, dass ich Dir solange nicht schrieb, es hat die vielen Abenteuer zum Grund, in denen ich mich seit 1. August bewege. Ich habe mir Schweden angesehen und bin augenblicklich in Norwegen, wo ich eine gefährliche Hochgebirgstour (auf dem höchsten Berg Norwegens dem Galthöpiggen) hinter mir habe. Das übrige lässt sich nur erzählen. Meine Waldecker Bude habe ich aufgegeben und hoffe in Holland in einer Tulpenkultur unterzukommen (...) Du wirst vielleicht nicht so recht einverstanden sein mit meinen romantischen Einfällen, aber es ist so ausfüllend schön und enorm, in der Welt herumzusausen, dass ich mir den Blick in die Zukunft gern verkneife und einfach glaube, es wird schon gut. (...) Herzlichst
Dein Sohn Werner



Auszüge aus Briefen von Werner Helwig an seinen Vater (1929 – 1934)


Hamburg (1929)

Lieber Papa.
Aus einer Kette von außerordentlich interessanten und gefährlichen Abenteuern bin ich nunmehr wieder glücklich, wohlbehalten, äußerst gesund und schwarzbraun gebrannt, gelöst, und in Hbg. gelandet. Ich werde nun erst einmal in aller Ruhe den literarischen Profit aus allem herausschlagen, um etwas Geld zu verdienen. Sowie ich was an der Hand habe, komme ich nach Bln. herüber (...) Außerdem bin ich sehr bildungs- und kulturbegierig und werde in meinen Mußestunden nicht mich über Deutschland ärgern, sondern den romanischen Sprachenkreis durchkauen. D. h. die Renaissance von ihren magischen Gründen her zu erfassen versuchen (...)


(1931)

(...) Augenblicklich bin ich förmlich aufgefressen von Verpflichtungen. Die beste literarische Zeitung Deutschlands, die Frankfurter Ztg., hat eine Novelle von mir gebracht. Im Juli-Querschnitt wird eine Ballade sein, in den losen Blättern der „Dame“ eine Geschichte. Meine schriftstellerischen Erfolge sind trotz der schweren Zeit ungewöhnlich gut (...)


16. 10. 32

(...) In Blankenese habe ich zwischen 3 Wohnungen zu wählen und weiß noch nicht, ob ich mich für die Zentralheizung, das Telefon oder den Kanonenofen entscheiden soll. Vielleicht finde ich eine vierte, die alle Möglichkeiten vereint. Die ausgezeichneten Vorsätze, die Barbusse Zola in den Mund legt, werde ich wohl nie ganz verwenden können. Meine Stärke wird immer die Darstellung des „Nebels“ bleiben, das Zwischenreich der Zwischen-, Neben- und Untertöne. Und ich sehe meine schriftstellerische Aufgabe eigentlich nicht in der Richtung, der Zeit etwas mitzuteilen, sondern zunächst einmal: für mich selber, für mein ganz privates Wachstum den Dingen in ihrer Dunkelheit nachzuspüren, ihre Wurzeln aufzusuchen (...)


Napoli 8. 2. 33 (Poststempel)

Lieber Pa. Fantastisch u. ein wenig verrückt, wie es sich für mich gehört, bin ich allmählich in Paestum gelandet. Nächst Napoli das Unglaublichste, was ich bisher an „Süden“ erlebte. Ich bin bereits einige Tage hier und kann mich kaum trennen vom Ort. Ich schlafe zu Füßen riesiger hellenischer Tempel, die ich nachts bei ungeheurem schweigenden Mond durchwandle. In der Ferne das uralte sagenhafte Tyrrhenische Meer. Hinter mir Berge, die erst überhalb eines zarten blauen Dunstes mit rissigen Schneegipfeln sichtbar werden. Zunächst werde ich so lange wie möglich hierbleiben, gemäß meiner Überzeugung: lieber etwas voll und ganz „sehen“ als viel ohne Genauigkeit.
Poststation kann ich Dir leider nicht angeben, da meine Zukunft zufällig sein wird. Also Du wirst nicht böse sein, wenn Du nach diesem Lebenszeichen erst wieder bei völlig verwandelter Situation von mir hörst. Ich komme bis jetzt mit 5 Lire pro Tag aus. 10 dürfte ich ausgeben bei dieser Zeit von 3 Monaten. Und dennoch morgens vino rosso, mittags vino bianchi, abends vino neri u. s. w. Im übrigen Makkaroni und Pane (...) Nochmals herzlichen Dank für den Berliner Aufenthalt (...) Ich habe Euch beide sehr lieb gewonnen. Hoffentlich wirst Du nicht zu bald wieder Gelegenheit haben, Dich über meinen mythischen und nebelhaften Charakter zu beklagen.
Euer Werner


Wiesbaden, 23. 10. 33 (Poststempel)

Lieber Pa.
Sandte Dir vor einiger Zeit Postkarte. Da bis heute ohne Antwort, Sorge um Euer Wohlergehen.
Um von mir zu berichten: meine Arbeit schreitet fort. Besonders: Ätnanovelle. Bin mit äußerster Freude dabei. Vergesse Zeit, Jahrgang, alles (...)


Wiesbaden, 14. 12. 33 (Poststempel)

(...) Habe materiell schwer zu kämpfen. Paestum ist nun im ganzen 12x zurückgekommen. 12x 24 (Pfennig) Porto. Und so auch unzählige andere Arbeiten. Ätna. Überhaupt nichts zu machen. Ihre Arbeiten sind nicht gefällig genug, erfordern zu viel Nachdenken, schreibt mir neulich eine Redaktion. Und ich schreibe keine gefälligen Arbeiten. Und wenn ich verrecke. Kiefer wagt wenigstens. Wenn sie auch nichts taugt. Bringt jetzt in Fortsetzung meine sehr schwierige Novelle „Gomorrha“(...)


Wiesbaden (undatiert)

(...) es ist mir hier möglich, der N.S.D.A.P. beizutreten, da viele meiner alten rheinischen Kameraden in führenden Stellungen sind und sich für mich verwenden würden. Das hat seine Vorteile in Italien und besonders in meinem Berufe. Jedenfalls rät man mir hier sehr zu, und ich bin sicher, dass man das Beste dabei im Auge hat (...) und was das andere betrifft, möchte ich bemerken, dass auch Tusk (jener Lapplandmann, der mich damals besuchte) heute in führender Stellung ist und ein Manifest herausgebracht hat, in dem er unter anderem ausführt: „die N.S.D.A.P. hat die gesamte Initiative ergriffen. Sie ist heute der Staat und es ist sinnlos, abseits zu verharren“.
Auf jeden Fall ist mir in der Sache Dein Urteil wichtig (...)


Frankfurt (Main) 1, den 12. Feb. 1934

Caro il mio padre. gracie für Brief und Sendung. Selbstverständlich. Du kannst in Deine Steuererklärung alles hereinnehmen, was irgend finanziell mit mir zusammenhängt. Verbuche doch regelmäßige Zuwendungen, wenn Dir das hilft. Ich bin weder Arbeitslosenunterstützungsempfänger, noch Wohlfahrtsmensch, noch Krankenkassengläubiger, noch irgend so etwas. Und werde nie dergleichen sein. Ich hasse u. verachte diese Zivilisationsapparaturen u. werde lieber auf der Landstraße verrecken, als jemals das Haupt vor solchen Institutionen zu beugen. Aus Finanznot habe ich eine Stellung in der H.J. als Kultursachbearbeiter angenommen u. verdiene 10 R.M. wöchentlich. Dass man davon nicht leben kann, wird jeder glauben. Dass da noch meine höchst windigen Zeitungs- u. Radiohonorare hinzukommen, hat ja praktisch keinerlei Bedeutung. Du bist auch schon so weit, dass Du Romane illustrierst, die Dir nicht liegen. Ich bin auch so weit. Hauptsache, dass wir darüber nicht vergessen, was wir wirklich können. Das wird man eines Tages auch wieder brauchen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Auferstehung der reinen Kunst näher ist, als wir alle ahnen. Das einzige, was mir überhaupt noch Atem gibt, ist die Hoffnung auf meine Sizilien- oder Norwegenreise. (Ich habe noch nicht entschieden) (wenn ich bedenke, dass ich eine Zeitlang spielend 200-300 RM im Monat verdiente (...)) Aber der Zahn der Zeit, der schon so viele Zähren getrocknet hat, wird auch über diese Wunde Gras wachsen lassen. [(bis dann so ein Kamel kommt und alles wieder abfrisst)].
Ich lebe, wie Du bemerkst, in (Klammern)
Herzlichst Euer
Werner

Wiesbaden 14. 3. 34 (Poststempel)

Lieber Pa.
(...) Habe in Ffm. eine große Regietat hinter mir: eine Wallensteinaufführung, die ich von A-Z geleitet habe. Vor 4000 Menschen. Mit Aufmarsch von Massenchören u.s.w. Bin völlig erledigt, aber habe viel dabei gelernt. Habe mich als Massenregisseur entdeckt. Aber jetzt erst mal Feierabend. Sende bitte die beiden kleinen Norwegen- u. Schwedenführer (...) Vielleicht gehe ich nordwärts (...)


(undatiert)

Lieber Pa.
Anscheinend bist Du über irgend was erzürnt. Ich habe Deinen Geburtstag vergessen. Ich mache darauf aufmerksam, dass ich in Ffm. Parteiarbeit leiste, Kultursachberater für 30.000 Menschen bin und riesige kulturelle Veranstaltungen ganz allein mit meinem armen Kopf durchorganisieren muss. Dass mir dafür ein Auto zur Verfügung steht, dass ich befehlen darf, wiegt den ungeheuren Verlust an seelischer u. leiblicher Substanz nicht auf. Mein Nervenzustand ist unbeschreiblich. Du würdest Dich entsetzen, wenn Du mich sähest. Mein Privatleben ist ausgelöscht. Mein Herz funktioniert nicht mehr. Mein Magen macht Revolte. Ich könnte eine Litanei über die Verfolgungssucht und Missgunst der Volksgenossen schreiben. Wer hoch steht, wird angegriffen. Ich bin abgekämpft wie eine Sau nach der Hatz. Ich lebe nur noch in Flüchen u. in Kasernenhofprosa. Bin freundlichen Seelenregungen entfremdet. Habe bei alledem zwar einen großen Apparat zur Verfügung, aber ein winziges Honorar. Ich schlage also vor, da ich nicht dafür garantieren kann, dass meine ungeheure Gereiztheit in meinen Briefen durchschlägt, dass wir das Schreiben aufstecken, bis ich wieder im Süden bin, was demnächst der Fall sein wird.
Herzlichst Euer Werner












Werner Helwig an Hanns Henny Jahnn1 (> H. H. Jahnn )









Werner Helwigs 

erste Kontaktaufnahme mit 

Hans Henny Jahnn, 1925

Hamburg, November2

Lieber Jahnn.

Wann und wo kann ich

Sie einmal treffen.
Zweck: Ugrino.3
Gruß

Werner Helwig












Genève, 3 rue Gautier, den 30. Ap. 50
Lieber Henny.
Aus einem Brief Carl Seeligs an mich zitiere ich:
„...sagte ich zu Hirschfeld, Sie wären der richtige Mann, der Jahnn am tiefsten verstünde, man sollte Sie über Jahnn sprechen lassen. Wissen Sie, was er darauf antwortete: Jahnn sagte mir, er sei wieder mal mit Helwig verkracht! Tableau: Mir war das neu.“
Und mir ist das neu, lieber Henny. Könntest Du mich nicht jeweils vorher davon unterrichten, wenn wir verkracht sind, damit ich nicht immer erst über andere Leute von den Emotionen unserer Freundschaft unterrichtet werde (...)
Es scheint wirklich, daß es stimmt, was Kreuder über Dich verbreitet, daß die Beziehung zu Dir sich nur durch den Krach regele. Nur habe ich mir bisher immer eingebildet, daß unsere Freundschaft eine der fraglosesten, selbstverständlichsten, unberührtesten sei, die es gibt. Kannst Du mich nicht bitte darüber aufklären, ob Du, oder ob ich den falschen Ton hineinbringe.
Dir zugetan wie immer
Werner

Genf, 112 rue de Carouge, den 27. 7. 55
Lieber Hans Henny Jahnn.
Ich habe, das darf ich wohl sagen, mich ein halbes Menschenleben lang, wo auch immer ich war, für Dein dichterisches und musikalisches Werk eingesetzt und werde das auch weiterhin tun. Jean Genet4 stellt aber genau das Falsifikat dessen dar, was Du willst und anstrebst. Er stellt nicht nur das Falsifikat, er stellt die verhirnte entherzte Verteuflung dessen dar, was Du willst und anstrebst. Da sich ganz äußerliche Parallelen anbieten, wird man sein Werk neben das Deine halten und in seinem Schatten wird das undeutlich werden, was Deine Leistung ist: eine aus der Schöpfung hervorgegangene Moral erahnbar gemacht zu haben. Wenn das nicht so ist, dann haben wir uns 33 Jahre lang mißverstanden.5 Wenn das aber so ist, dann kann Dir nicht entgangen sein, was ich Warnendes zum Fall Genet schrieb. Und gegenüber einer Gesinnung, die Brunnenvergiftung mit Offenbarung verwechselt (...), zögere ich nicht, zu bekennen, daß ich mich lieber von christlicher Moral umgeben wünsche. Denn noch ist das nicht gefunden, was an deren Stelle zu setzen wäre.
Wie immer freundschaftlich
Dein Werner Helwig

Genf, 112 rue de Carouge, den 9. 8. 59
Mein lieber, herzlich von mir verehrter Henny.
Es ist, als ob Bornholmer Boden nötig wäre, um die alte Vertrautheit sofort zwischen uns wieder herzustellen. Danke für Deinen Brief. Entschuldige meine Heftigkeiten und meine Ungeduld. Natürlich hast Du genau einen solchen Packen auf der Schulter wie ich und die Stunden rasen sozusagen von Stunde zu Stunde schneller, je mehr es dem Abschluß entgegengeht.
Alles, was Du schreibst, hätte ich mir gewissermaßen auch so denken können. Trotzdem ist man vom eigenen Sorgengeräusch bis über den Rand des Begreifens hinaus angefüllt und ist nicht gern bereit, zu dem anderen hinüberzuhorchen.
Was Du über unser Verhältnis von damals sagst, hat mich sehr innig bewegt. Daß ich Dir nicht bereitwilliger entgegenkam, lag ja nur daran, daß meine Erosrichtung mehr nach jungen Menschen aus war, im übrigen aber genau so wie die Deine zu allem bereit war, was sich aus dem Fleisch her schenken wollte und konnte und mochte. Bitte, setz das als Selbstverständlichkeit voraus. (Und es tut mir nachträglich direkt leid, daß ich in meiner Konstitution nicht die Möglichkeit fand, Dir stärker entgegenzugehen. Verstehst Du, wie ich das meine?)
Was die Bücher betrifft, Dein Instinkt war richtig. Ich hatte Dir mal zwei Bände entführt, der Arzt, sein Weib, sein Sohn und noch etwas, das ich nicht besaß, habe sie aber später, überwältigt von Deinem Vertrauen, reuevoll wieder zurückgeschmuggelt. Dann befand ich mich noch einmal in Versuchung angesichts einer Kiste voll ungebundener Perrudjas auf Japanbütten oder so. (...) Ich wog das lange auf der Hand. (...) Schließlich legte ich es wieder zurück. Etwas, das ich heute andersrum bereue. Vielleicht besäße ich das schöne Druckwerk heute noch, wenn ichs damals doch stibitzt hätte. Denn nachher ging ja wohl doch alles im Chaos unter. Daß ich etwas absichtlich-versehentlich zurückbehielt, ist mir, glaube ich, mit „Straßenecke“ passiert. Und mit einigen Heften der Glaubensgemeinde Ugrino. Dies meine schonungslose Beichte. (...)
Henny, was waren das für merkwürdig reizvolle Zeiten. Ihnen schlossen sich für mich als gleichwertig an mythischer Kraft die Wochen oder Monate auf Bornholm an. Dein wahres Leben, scheint mir, hast Du dort geführt. Trotz all der Konflikte, die Dich umtoben. Mögen Dir die Engel, die sich in der Süßigkeit und Nachgiebigkeit des Menschenfleisches erproben und versuchen, gelingen. Ein wundervoller ganz zu Dir gehörender Einfall. Fühle, wie ich Dir innerlich beistehe. Wie gern wäre ich jetzt eine Zeit lang mit Dir dort auf der Insel. Unmöglich für mich. Der Erwerbszwang hat mich derartig überwältigt, daß er mir, als Ausflucht, fast schon wieder Lust bereitet. (...)
Was Du von Signe und Yngve6 schreibst, berührt mich als Deine Qual, mischt sich mit meinen Sohnessorgen, ergänzt sich und verschlägt mir die Worte. Tröstungen gibt’s da keine. Sie leben uns und das von uns Erkundete nicht weiter. Wollen, können es nicht. Darum erklären sie das Unsrige als falsch. Sind deswegen nicht schlechter als wir, auch nicht besser, werden, wenn sie mal Kinder haben und alles weitergeht (was ich bezweifle), Ähnliches erleben, auch wenn sie sich noch so sehr vornehmen, es nun für ihren Fall ganz und gar richtig zu machen. Wie wenn die Welt ihr Ende durch das Mittel des Menschen suche. Die Selbstsprengung als Schlußpunkt.
Was wir anstrebten, die Neuentdeckung der uralten Liebe, ihre Heiligung, dadurch die Heilung bringend, ist abhanden gekommen. Die Befreiungen nach allen Seiten hin haben Langeweile übriggelassen. Aus dieser Langeweile den Stoff für neue Abenteuer zu gewinnen, ist die Bemühung der h e u t e Jungen. Führt zum Motorkult, Gangsterismus, Jazz und Selbstverpulverung in reiner Stoffwechsel-Sexualität. Wahrscheinlich von Radioaktivierung begünstigt. Dazu dann der Eisschrank- und Fernseh-Missionsdrang des Ostens: bis jeder Idiot auf Erden die Selbstvergiftung im Hause hat. Ausrottung jeder Eigenständigkeit, bis in Tibet, Mexiko oder Afrika dieselbe Fresse den Bedarf bestimmt, dieselbe Mode, dieselbe Sozialromantik, dasselbe Versicherungswesen, derselbe Arbeitszwang vorherrscht. Kein Platz mehr für Dich und mich. Nicht mal für Signe, Yngve, Gerhard7. Untergang aller Extrafreuden im grauen Ordinären. Der Jubel nicht mehr auf die Schöpfung, sondern nur noch auf Atomfabriken beziehbar. Riesenstauwerke, die das Gesicht der Landschaft versauen. Flüsse im Korsett von Beton. Landwirtschaft auf der Grundlage von Penizillinspritzen. Das kranke Vieh wird gesünder als das gesunde. Treibfarmen für Hühner auf der Grundlage von radioaktiver Beeinflussung der Schilddrüsen.
Die Erstickung an der Sauberkeit. Die neue Erlösungsformel von Ost bis West: Friede durch Tod. Tod dem, der nicht zufrieden ist.
Was bleibt uns, Henny, als das Wissen umeinander. Wir legen das unsere ab, ohne zu wissen, ob es je aufgenommen wird. Der Ugrino-Verlag, Dein schönstes Werk, wo wäre es einzuwurzeln, um zu überdauern. Ich denke darüber nach.
Ich reiche Dir die Hand mit völligem Zutrauen. Sollte es uns nicht helfen, zu wissen, daß wir da sind, noch da sind, noch das Unsere tun, blindlings in die Zukunft hinein?
Dir von Herzen zugetan
Dein Werner

1 Hans Henny Jahnn (1894-1959), dt. Schriftsteller und Orgelbauer. Schrieb vom Expressionismus und von Joyce beeinflußte Werke. Dramen: PASTOR EPHRAIM MAGNUS; DER ARZT, SEIN WEIB, SEIN SOHN; STRAßENECKE; SPUR DES DUNKLEN ENGELS; NEUER LÜBECKER TOTENTANZ (zusammen mit W.H.), Romane: PERRUDJA; FLUß OHNE UFER; DIE NACHT AUS BLEI u.a.
2 Dieser Brief steht am Anfang der 1925 beginnenden und 1959 durch Jahnns Tod endenden Beziehung.
3 Von Jahnn und anderen gegründete Glaubensgemeinschaft
4 Jean Genet (1910-1986), fr. Schriftsteller. Verherrlichte in seinen stark autobiographisch bestimmten Werken das Leben außerhalb von Gesellschaft, Konvention und Moral stehender Menschen.
5 W.H. war 1922 durch Lektüre von PASTOR EPHRAIM MAGNUS auf Jahnn aufmerksam geworden.
6 Jahnns Tochter und sein Pflege- und Schwiegersohn
7 Sohn Helwigs











Werner Helwig an Ernst Kreuder1

den 6. 8. 54
Lieber Herr Kreuder.
Es tut mir herzlich leid, Sie enttäuscht zu haben. Indessen, ich bin davon überzeugt, daß es weder Ihrem Namen noch Ihrem Werk abträglich sein kann, innerhalb einer sardonisch gehaltenen Kritik auf sardonische Art gekennzeichnet, aber zugleich auch nach vorne, in die Reihe der Avantgardisten gestellt zu werden. Solche kurze Schwefelhölzchenbeleuchtung ist manchmal dem Lebendighalten eines Werkes dienlicher als kultisch ernstes Lob. Leider ist die eher Gegen- als Für-Stimmung der Becketkritik2 durch redaktionelle Striche gemildert worden. Ich werde Ihnen den Urtext zugänglich machen und bin sicher, daß Sie dann weniger böse auf mich sein werden. Nichts aber soll mich hindern, mit aller Intensität auf Ihre Arbeit einzugehen, wenn sie mich so packt und verwandelt wie damals Ihre „Unauffindbaren“. Im Augenblick allerdings will mir scheinen, daß wir deutschen Schriftsteller alle, indem wir jeder einzeln „seinem Traum folgen“, der fürchterlich lastenden und sekündlich explosionsbereiten Weltlage etwas schuldig bleiben, und ich wüßte nicht mal zu sagen, was. Ist es die Entsprechung, das Wahrhaben, das Aufzeigen? Jedenfalls: wir bleiben es schuldig. Außer einem, der leider nicht gehört wird: H.H. Jahnn.
Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem
Werner Helwig

3. Aug. 69
Lieber Ernst Kreuder.
Haben Sie den Henny-Verriß in der vorigen FAZ gelesen? Literatur als Leben ist also verboten, gilt nicht mehr. Die Eisbeuteldiktatur der linken Byzantiner läßt es nicht zu. Soll man sich zu einer Entgegnung versammeln? Mir gehts wie Th. M.: „Zum Hitler fällt mir nichts ein“.
Ihr neues Buch. Ich finde nicht die Stimmung zu einer brauchbaren Rezension. Wollen wir uns – die Zeit fordert ja zum Trichieren heraus – nicht den Scherz leisten, daß Sie mir eine schreiben, die ich dann unter meinem Namen in den 5 mir offen stehenden Blättern bringe. Verschwiegenheit nat. Ehrensache. Am liebsten gleich mit 5 guten Durchschlägen, da ich dann sofort – und vor andern – mit der Absendung loslegen kann.3
(...)

25. 1. 70
Lieber Ernst Kreuder. Mehr als dreimal ist – meines Wissens – die Rezension nicht erschienen, trotzdem ich einen erweiterten und hübscher aufgemachten „Neudruck“ veranstaltet hatte. Ziel dieses Schreibens: nach jahrelanger Suche ist mir endlich der Helianth, Zeuge meiner verschwärmten Jugendjahre, wieder ins Haus gekommen. Teures Antiquariat. Haben Sie Hennys Gedächtnisrede auf Schaeffer?4 Können Sie mir das leihen? Mit Vergnügen lese ich Ihre Stellungnahme zur Romantik in der Presse. Wann haben wir die Kältepolitiker der neuen Literatur endlich hinter uns? – Was tun Sie, wie gehts? Herzlichst auch Ihrer Frau empfohlen Ihr (65, niemand hats gemerkt)
alter Helwig5

den 29. März 70
Lieber Ernst Kreuder.
Meine Entdeckung und Ihre Bemühung haben also Frucht getragen. Das mir, wie wahrscheinlich Ihnen auch unmöglich Scheinende hat sich begeben: Henny für Schaeffer zeugend. Ich weiß aus genauester Erfahrung, daß nie ein Buch von A. S. Henny interessierte. Mein Versuch, ihn bedingtermaßen für den Helianth zu gewinnen, scheiterte katastrophal. Seine Beziehung begab sich erst angesichts der zahlenspekulativen Arbeiten Schaeffers, besonders „Aphaia“, das ich besaß und das mit meiner gesamten Expressionistenbüchersammlung unter den Bomben in Hbg. blieb. Meine Suche im Antiquariat bis heute erfolglos. Ich erinnere mich aber, daß mir Aphaia nicht besonders einleuchtete. Hennys Grabrede kam wohl nur zustande, weil man niemand dafür fand. A. S. war schon ein Verschollener, als er jenen Schlaganfall erlitt, von dem Sie schreiben. Soviel ich erfuhr, war er s e h r deprimiert, eben das sich bestätigen zu sehen. Hennys Wort von seinem erneut einsetzenden Widerhall nach Heimkehr ist eine freundliche Vermutung. Tatsache blieb bis heute, daß seine letzte Helianthbearbeitung mit unzähligen anderen neuen Arbeiten bis jetzt unveröffentlicht blieb. Selbst diese Wiederaufwärmungen damaligen Schrifttumes, wie sie heute die Verlage aus Autorenmangel leisten, haben ihn nicht erfaßt. So gelingt es auch mir nicht, meine Hellastrilogie endlich in geschlossener Form neu herauszubringen. Raubfischer u. „Im Dickicht des Pelion“ hatte A. S. noch mit Begeisterung gelesen. Seine letzten Zeilen an mich: „Sie haben Herzbube mit Ihrem Pfeil getroffen“. – Tempi passati.
Hennys Nachruf ist trotzdem fesselnd. Er hat, wie immer, sich selbst in der Betrachtung mit untergebracht. Ohne den Bezug auf Mozarts sonderbaren Tod und auf den Feueranzündervortrag Schaeffers wäre ihm nicht viel dazu eingefallen. Von H. u. C.6 erwarte ich nun aber doch eine gute, vollständige Hennyausgabe a l l e r, auch der Musik-Werke. Wenn nicht – Hennys Pech ist sprichwörtlich – der entscheidende Mann plötzlich stirbt oder sonstwie über Bord geht.
„Unser“ Artikel über Ihr Buch kam dann noch zum 5. Mal in der Schwäbischen Zeitung. Ein voller Erfolg. Hoffentlich nützlich spürbar für Sie.
Das Leben ist eine Hühnerleiter, von oben bis unten – beschämend. (Auch dies ein Wort A. S-s.)
Ihnen und lieber Gattin alles Gute
Immer Ihr Helwig

den 3. März 72
Lieber Kreuder. Man hört und sieht immer weniger voneinander. „Es wird stiller um uns“, auch, ganz unbegreiflich, um Henny. Ich notiere da „Erinnerungen“ und stelle fest, was ich alles vergessen habe. Wann trafen wir in Mainz zusammen, um Preise zu empfangen, und wer war das doch außer Arno Schmidt und Frau Schäfer? Könnten Sie mir das, bitte, kurz mitteilen? Auch um die Mainzer Akademie ists ja stiller geworden, allerdings auch um die Darmstädter.
Wie gehts Ihnen, darf man wieder auf was Neues hoffen? Martin Kessel7, völlig eingeschneit von Vergessen in Berlin, schreibt mir Verzweiflungsvolles. Zeitungen, Zeitschriften, Feuilletons sterben. Man sollte Werbetexte schreiben.
Ihnen Herzliches Ihres Helwig8

1 Ernst Kreuder (1903–1972), dt. Schriftsteller. Schrieb vor allem Erzählungen und Romane spätromantisch-surrealer Art, z.B.: DIE GESELLSCHAFT VOM DACHBODEN; DIE UNAUFFINDBAREN; AGIMOS ODER DIE WELTGEHILFEN; SPUR UNTERM WASSER; HÖRENSAGEN; DER MANN IM BAHNWÄRTERHAUS.
2 1954 hatte Werner Helwig in einer Rezension des Buches „MOLLEY“ von Samuel Beckett geschrieben: „Beckett ist für diesen Moment unserer Gegenwart absolut etwas Neues, möglicherweise so neu und richtungsbegründend wie seinerzeit Schönberg mit seinem Zwölftonsystem für die Musik. Er ist im Bezirk des Literarischen z.B. ganz anders neu als die Sprachepilepsie des Arno Schmidt, als die „Knusper-knusper-Knäuschen“-Dämonie des Ernst Kreuder oder die saloppe Tristesse des George Forestier. Das sind alles echte Dichter, die ihr Bestes geben (und sie gaben Bestes), indem sie uns am Turnreck des Herkömmlichen Varianten demonstrieren, die wir verstehen, bemessen, genießen, und einverleiben können“.
Kreuder schrieb darauf am 6. 8. 54 - mit Dank für die „’Knusper knusper Knäuschen’-Dämonie“ - einen bitteren, Helwig attackierenden Brief, unterzeichnet mit: „Ihr recht enttäuschter Ernst Kreuder“.
3 Daraufhin Kreuder am 9. 8. 69 u.a.: „ich wills versuchen. Walt Whitman war darin geübter. – Der Henny-Verriss ist eine Giftpisserei“ und am 14. 8.: „hier kommt der vorgeschlagene „Scherz“ zu Ihnen. Als dann, 5mal in den Briefkasten! War mir ein Vergnügen.“
4 Albrecht Schaeffer, Autor des HELIANTH
5 Daraufhin schrieb Kreuder am 29. einen herzlichen Brief; er weiß nichts von einer Gedächtnisrede von Henny auf Schaeffer, will sich aber erkundigen.
6 Hoffmann und Campe
7 Martin Kessel (1901-1990), dt. Schriftsteller, Bewohner der Künstlerkolonie Berlin
8 Der Literaturpreis der Mainzer Akademie wurde 1950 Werner Helwig, Hans Hennecke, Oda Schaefer, Heinrich Schirmbeck und Arno Schmidt zugesprochen (Verleihung 1951).











Werner Helwig an Richard Seewald 1 (> Richard Seewald)

den 8. 7. 63
Lieber Herr Seewald.
Verschiedene Gründe, Ihnen zu schreiben. Mit Spannung vertiefen wir uns in Ihren Bericht „Der Mann von Gegenüber“. Ich werde das Buch für die FAZ besprechen.
Einzig Ihre mißlaunigen Bemerkungen zu Rilke goutiere ich nicht. Bei ihm, als einzigem neueren deutschen Dichter (nächst Däubler) sind Grundzüge und Anfänge einer biogenen Poetik zu beobachten. Literarisch ist das nicht. Aber für das andere wird man – geht überhaupt alles ungefähr so weiter – eines Tages Organ haben.
Im übrigen: Wir haben unsere Erinnerungen mit geringem Verkaufsglück unter „Der smaragdgrüne Drache“ bei Hegner drucken lassen. Lassen Sie's sich doch mal schicken. Einfach aus Nachbarschaft ist das für Sie interessant. Wobei hinzukommt, daß ich um den Zugang zur Kirche „ringe“, ohne ihn zu finden, obwohl ich von Maria Laach her höchsten Zuspruch genieße. (...) Hilft aber nichts. Ich komme keinen Schritt weiter. Meiner Frau gehts nicht besser.
Wir wohnen neu. Und groß, weit und teuer. Aber schön. Ich brauche – um den mich langsam ermüdenden De Chirico abzulösen - ein großes Bild, 70 mal 50 etwa, Thema Schiffsmysterien. Haben Sie sowas in Ihren Mappen? Raumentsprechende Farben. Grau-Schimmelgrün-Branstrot-Schwarz, oder Braun. Kein Blau. Das Licht verwandelt hier Blau allemal in Tinte. Ist nur so eine Idee. (...)
Komisch, daß wir uns noch nie sahen.
Anbei De Chirico. Erschien zuerst französisch. Die Klischees sind von Hazan. Entsprechend limonadig. Ich tippe schlecht, weil ich – wider die Gewohnheit – nach der Whiskystunde an die Maschine ging.
Ihnen und den unbekannten Ihrigen alles Gute
Ihres Helwig

den 11. Sept. 70
Lieber Richard Seewald. Ich bin mit Ihrem „Garten“2 beschäftigt, dem ich – so ists bis jetzt geplant – in Form eines Briefes an Sie in der Presse huldigen möchte.
Dazu eine Frage (...) – auf Seite 86 finde ich den mich alarmierenden Satz: „Und Kurt Glaser, einst in Berlin Macher von Ruhm, rühmend Beckmann und Munch, d e r   m i t   d a b e i   w a r ...“
Da Munch mir als einer der Größten des Nordens gilt, vermißte ich ein paar charakterisierende Worte zu diesem Besuch. Es könnte durchaus so sein, denn er ist ja erst – dieser Klassiker, – wie erstaunlich – 1944 gestorben. Als ich noch in Norwegen vagabundierte, durfte ich ihn, ein sehr seltener Fall, in Ekely sehen. Das heißt, ich war einfach hingegangen, hatte meinen riesigen Lapplandrucksack, mit einem Rentiergeweih aufgeschnallt, vor seine Tür gesetzt und seinen Namen gerufen. Er kam in blauen Arbeiterhosen, böse blickend, zum Vorschein. Ich bat, wie ein echter Stromer, scheinbar nichts von ihm wissend, um Wasser und Brot und er lud mich, plötzlich nicht mehr zögernd, hinein in eine unwahrscheinlich anheimelnde Werkstattunordnung. Ganz langsam und vorsichtig gab ich mich als Kunst- und Lebens-Wanderer zu erkennen, nachdem er mir Tee und Brot mit Ölsardinen aufgetischt hatte (anderes war nicht im Haus).
Es wurde ein taglanges Zusammensein daraus. Er sprach Deutsch mit jenem reizvollen Akzent (und jenen reizvollen Fehlern), die der Skandinavier unserer Sprache beibringt. Thema: Strindberg und der nicht minder dämonische Kunstmäzen Albert Kollmann, auf dessen Spuren ich lange wilderte (bis zu Däubler hin, der auch ein Kollmann-Mensch war). Er schenkte mir zum Abschied eine große Zeichnung, die ich in Papphülle über das Rentiergeweih schnallte. Sie verbrannte mit meinem ganzen, heute unschätzbaren Kunst- und Bücherbesitz in Hamburg (Wohnung meiner Eltern) in einer Bombennacht.(...)
Was Sie von Kogan3 schreiben, dem mir so lieben Tanagraplastiker, (...) hat mich so erschreckt wie damals die Nachricht, daß Freund Maillol nach der Befreiung von Paris von einem Resistenzler mit einer Eisenstange erschlagen wurde. (...) Es ist ja klar, daß Ihr Namen-Kapitel zunächst am tiefsten eingeht. Unser Leben bezeichnet sich in Namen, die Stationen darstellen. Ich persönlich hätte mir dieses Kapitel ruhig ausführlicher, länger gewünscht. Denn schon verbleicht alles. Denn dem körperlichen Erschlagen folgt jetzt der Namen-Mord der Literaturgangster aller Rotschattierungen, die denkbar sind. (...) Verödung und Zerfall der Kirchen: (...) Die Folgen realisieren sich gleichlaufend. (...)
Ich bin ja auch nicht von Geblüt her katholisch. Sondern nur Sympathisant. Die Absetzung gewisser Heiligen: ich bin überzeugt, daß Gestalthaftes durch Jahrhunderte des Daranglaubens „zusammengebetet“ werden kann. Warum also es beseitigen? Sind die Väter in Rom negative Materialisten geworden vor lauter Angst, dem Ätzkalkintellektualismus der Moderne standhalten zu müssen? Schade. Schande.
Soviel für heute.
Ihnen Hand und Herz zum Gruß
Ihres Helwig

(ohne Datum, aber wohl 1972 zugehörig. U.P.)
Lieber Freund Seewald.
Wenn ich wüßte, was Ihnen schreiben, ohne meinen rasanten Kummer über den unaufhaltsamen Zerfall unserer Welt durchblicken zu lassen, würden Sie öfter Post von mir haben. Hinzu kommt, daß ich die vergehende Zeit nur noch an meinen Arbeitsergebnissen messe und die müssen einträglich sein, sonst haben wir alle nichts zu leben. Bilder, wenn sie der Ruhm begleitet, haben Bestand. Bücher nicht. Auch wenn sie für eine Frist vom Ruhm getragen wurden. Bei mir steht ein Werk von 30 Bänden an, das nicht mehr am Leben zu halten ist, weil ihr Stil – Mythos als Sprache – nicht mehr genehm ist. Und daß die Gestimmtheit, von der sie zeugen, je wiederkehre – diese gelegentliche Hoffnung habe ich nun endgültig begraben. Meine „Kirchenfenster“ verursachen nurmehr ein paar letzten Freunden Vision. Die Verlage separieren sich davon oder gehen ein oder gehen in Verlagskombinaten auf, wo dann nicht mehr der einzelne Verleger bestimmt, sondern ein Gremium abstimmt. Immer zu meinen Ungunsten. Sie genießen den Vorteil, mit Ihren besten Jahren in die Aufbruchsstimmung des Expressionismus gefallen zu sein. Meine besten Jahre wurden – werklos noch, oder erst im Werken begriffen – von der Emigrationszeit während der Naziherrschaft verschlungen. Da noch nichts von mir vorlag, das mir Namen gegeben hätte, stand ich mit leeren Händen vor dem Zwang, mich über Wasser halten zu müssen. Und nach 45 brauchte ich wiederum Jahre, um meine Familie aufzubauen und uns eine Existenz zu schaffen. Das konnte sich mit Sofortwirkung (finanzieller) nur per Feuilleton und Kulturteil der Gazetten und Periodika ergeben. Was in mir als „Werk“ angelegt war, ronn in Hunderte von Kritiken, Essays, Aufträge ab, wo ich auch noch den geringsten wahrnehmen mußte, um unsern notwendigsten Standard zu halten. In alle dem konnten Sie auf Ihren bereits bestehenden Raum fußen, konnten im Sinne des bereits Erarbeiteten oder Eingegebenen weiter wirken. Das fing in Pfemferts heute Geschichte gewordener „Aktion“4 an, als es noch ein nobles Erfordernis war, links zu stehen, und führte Sie über die Unbilden des politisch mörderischen Weltwetters in die Kirche als dem erkannten letztgültigen Port. Eine Geborgenheit, die Ihnen zukam. Heute hat Ihre Kunst eher eine starke Innenstrahlung und zieht wahnsinnige Anarchisten (ich denke an Ihre schönen, öffentlichen Hellaslandschaften in München) nicht so an, resp. lockt sie zur Schändung, wie etwa die Pietà des Michelangelo im Petersdom oder (ein anderer Strahlungspunkt größter abendländischer Malerei) Rembrandts „Nachtwache“ in Holland, die in eben diesen Tagen bis zur Rettungslosigkeit von einem anarchistischen Psychopathen zerstört wurde. Dinge, die mich, da zu meiner zentralen Kunstphilosophie gehörend, bis ins Mark entsetzen.
Dazu gehört der Kunstraub in Italien, dem Piero della Francescas herrliche Madonna mit dem Korallenzweig zum Opfer fiel. Auch so ein meiniges „Richtbild“. Bis heute unauffindbar verschollen.
Daß das Mittelmeer – mein eigentlicher Seinsbezirk – nun völlig verjaucht ist und mit dem wieder offenen Suezkanal immer mehr verjaucht wird (kein Gesetz, das die Auswaschung der Schiffsmaschinen ins Meer hinein verbietet, so daß nun wirklich alle Strände schwarz verteert sind), verstößt mich vollends ins Leere und ich sehe gar keine Möglichkeit mehr, mit meiner Art des Wirkens, irgendwo oder -wie wirksam zu werden.
Dies alles und noch viel mehr hätte ich im Schreiben an gerade Sie nicht unterdrücken können, wie es ja auch eben dieser hier entstehende Brief beweist. Sie befinden sich in einer Situation, die Ihnen Abstandnahme, Meditation und eine den Umständen angemessene Abgeklärtheit ungefähr doch (ich zweifle nicht, daß auch Sie den großen Sorgen Ihren Beistand nicht weigern) erlaubt.
Auf was denn sollte ich mich besinnen, auf was zurückgreifen, um nicht immerwährend in Hiobs Klagen zu leben?
Um das, was ich jünger bin als Sie, bin ich stärker ausgesetzt, weil die Kräfte noch dafür reichen, um mich darin zu erkennen. Die Aufzählung Ihrer Erfolge deutet die Arbeit an, in der Sie heimisch sind. Meine Arbeit ist, als Einsatz, nicht geringer, aber kann ich mich in ihr heimisch fühlen?
Das, was ich als mein „Hauptwerk“ (in Anführungszeichen) begreife, 500 Seiten Zusammenhangs-Aphorismen, findet keinen Verleger, weil ich Linkstrend, Porno und die heutigen Vermassungstendenzen ablehne. Auch die Kirchen in ihrer heutigen Zerrissenheit (bis in den Vatikan hinein) kommen nicht gut dabei weg. Also ein Buch, für alle gedacht und keinem genehm, da ja jeder im Seegang der Meinungen anders orientiert ist. Verlust der Mitte, wir stehen im Vollzug dieser prophetischen Ankündigung.
Nun habe ich – Ihrem Beispiel folgend – soviel über mich geschrieben, wie Sie über sich mitteilen.
Nehmen Sie es hin mit der Versicherung meiner Freundschaft
Immer Ihr Helwig

den 11. Juni 72
Mein lieber Freund Seewald. Wir treiben uns zur Zeit dauernd auf Reisen herum (...), nicht zum Vergnügen, sondern auf der Flucht vor der rasanten Lärmentwicklung, die unser ehemals braves Moillesulaz hier nimmt. Der bescheidene Vorort hat (...) sich dazu entschlossen, eine Satellitenstadt zu werden (...). Hunderte von herrlichen Parkbäumen hat man gefällt; rings um unser 12-Etagenhaus, in dem wir die zehnte bewohnen, breitet sich eine Betonwüste aus, sprießen die Betonwolkenkratzer aus dem Boden (...). Wir gingen dabei psychisch und physisch kaputt. (...) Meine Arbeitsfähigkeit ist, grad jetzt, wo sich der Arbeitskampf (lauter neue Leute in den Redaktionen, die ihren eigenen Anhang einschleppen) unwahrscheinlich verschärft hat, gefährlich reduziert. (...) Also, ich weiß nicht mehr ein und aus, und um irgendwie fit zu bleiben, flitzen wir umher, kommen ungefähr jeweils gesund nach Hause, um schon binnen 10 Tagen wieder den Rückfall in die Ausgangslage zu verspüren. Dabei ist zeitlich kein Ende abzusehen. (...) Hinzu kommt, daß die Smog-Wogen sowohl von Genf als von Annemasse sich hier kreuzen. (...) Überdies werden die Latten- und Dachpappenreste vom Bauen täglich und nächtlich verbrannt, und wenn wir Nebel haben, (...) liegt der ätzende Brandgestank dauernd in der Luft. Alles Dinge, die zum Ausziehen nötigen. Aber wohin. Wir hatten uns hier mit allen meinen Sammlungen auf Dauer eingerichtet. (...) Der Gedanke daran, das alles aus seinen Ordnungen zu reißen und zu packen, versetzt mich in Panik. Immerhin 67 Jahre habe ich auch schon. (...)
Ausland: Deutschland liegt mir nicht mehr, das intellektuelle Klima dort ist mir tief widerlich (...). Ich teile Ihnen dies alles mit, um wenigstens einmal an der richtigen Stelle das Herz auszuschütten, denn sich andern zu eröffnen in der bitteren Hilflosigkeit, bedeutet Prestigeverlust. Das öffentliche Image, das sich mir angehängt hat, scheint vorauszusetzen, daß ich immerwährend der „muntere Raubfischer“ bin. Mit meinem Namen scheint sich nicht die Vorstellung zu vertragen, daß ich auch mal alt werde, und wahrscheinlich spürt man das auch meiner Schreibe nicht an. Der Versuch, das zu korrigieren, stiftet eher eine Art erstaunten Hohns.
Somit also schicke ich diese Last Verdruß an Sie und bitte Sie, das verständnisvoll zu entschuldigen.
(...) Anfang Juli sind wir wieder hier, um die Lage zu befühlen. Hat die Abscheulichkeit Bestand, werden wir uns schleunigst wieder aus dem „Staube“ machen (dies Wort erfüllt sich hier ja tatsächlich materiell).
Vielleicht ermöglichen Ihnen diese Zeilen auch, die eigene Einsamkeit als Segen zu verspüren. Trotz allem. Und damit wäre sie zu etwas gut gewesen.
Herzlich umarmt Sie
Ihr Helwig

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den 16. Mai 76
Lieber Freund Seewald.
Ich habe Sie, als jemand, der zum Glauben gefunden hat, immer als Instanz genommen, vor die ich meine Mißlichkeiten bringen kann. Wenn sich Ihnen jetzt diese Rolle versagt (eine Rolle, die ich Ihnen ungefragt zumutete), muß ich mich natürlich zurücknehmen und mich mit dem bescheiden, was ich bisher von Ihnen hatte: Ihre Kunst, Ihre Bücher, Ihre Briefe. Um es noch einmal kurz (auch für mich) zusammenzufassen: Seit ich 33 emigrierte, hat sich mir das Schicksal an die Ferse geheftet, immer gerade dann, wenn ich wähnte, festen Boden unter den Füßen zu haben, in ein neues, unvorhersehbares Verhau zu stolpern, das jeweils meine ganze Kraft verbrauchte, auch die der Kunstleistung, die ich mir abforderte, lähmend. Grund: diese Verhaue waren, bleibend sozusagen, immer von ganz blödsinniger, undramatischer Beschaffenheit. Hellas mußte ich verlassen, nachdem ich mich gerade etabliert hatte, weil Diktator Metaxas kam. Capri, wo ich mir eine Weinberghütte wohnlich gemacht hatte, weil gelegentlich des Göringbesuches dort die Gestapo in den Fremdenlisten auf meinen Namen gestoßen war. Zürich, weil die Fremdenpolizei darauf kam, daß ich in der NZZ verbotenerweise publizierte (was ich vorher jahrelang vom Ausland aus durfte). Liechtenstein, weil meine inzwischen geheiratete Frau dort wegen der dauernden Föhnlage einen schweren Herzknacks bekam. In Genf mußten wir, das war nach 45 noch sehr schwer, jahrelang um Niederlassungsbewilligung ringen. Danach dann das Wohnungsdilemma: das eine Haus mußte abgerissen werden, das andere wurde von der Regie5 verkauft. Im jetzigen widerfuhr uns, was ich Sie wissen ließ.
„Schicksal klebt“ wurde zum Sprichwort für uns. Und es ist immer das kleinliche, meskine, uns gerade darum jeden Ansatz zur Selbstbesinnung zertrümmernde. Diese Aufzählung faßt nur ein paar springende Punkte zusammen. Die vollzählige ergäbe ein Buch. (...)
Jetzt also nun, in all das hinein, unsere neuerlichen Wohnungsschwierigkeiten (...). Aus solcher Lage heraus wollen Sie bitte meine Beschwerdebriefe verstehen und verzeihen.
(...)
So gehts also weiter und weiter mit immer seltener werdenden Momenten innerer Freiheit, um schließlich doch mein Werk zum Abschluß zu bringen, anstatt mich in Kritiken und Essays zu erschöpfen.
Dieses als ein Insgesamt ungefähr zu erklären, legt mir Ihr Brief nahe. Nehmen Sie es bitte in diesem Sinne auf und an. Mehr will ich darüber nun nicht noch berichten.
Was Sie über sich selber sagen, erfüllt uns mit Sorge – und mit Hochachtung wegen der glaubensstarken Tapferkeit, mit der Sie das alles ganz allein zu bewältigen versuchen.
Ihnen bleibend verbunden
Ihr Helwig

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1 Richard Seewald (1889-1976), dt. Maler (seit 1939 Schweizer Staatsbürger), Illustrator, Schriftsteller. Werke: VERWANDLUNGEN DER TIERE; DAS GRIECHISCHE INSELBUCH; DER MANN VON GEGENÜBER u.a. Illustrierte auch Bücher von Helwig (GEGENWIND; ISLÄNDISCHES KAJÜTENBUCH).
2 Richard Seewald, NEUMOND ÜBER MEINEM GARTEN
3 Moissey Kogan (1879-1943), jüd. Bildhauer und Graphiker
4 Franz Pfemfert (1879-1956) gab zwischen 1911 und 1932 die expressionistische Zeitschrift DIE AKTION heraus.
5 Hausverwaltung











Werner Helwig an Rolf Bongs1

den 11. Dez. 70
Lieber Rolf Bongs.
Doch, ich erinnere mich meines damaligen Briefes an Sie. Er enthielt Faktisches aus meinem realen Erfahrungsbereich, handelte von Dingen, die ich durch „anfassen“ erfaßt hatte. Sie beantworten das auf Ihre mir vertraute (und von mir geschätzte) Art (...), überlegen, auch den Zweifel nicht ausschließend, universalistisch und auch ein wenig glaubensideologisch verpackt. Nein, wir sind beide den Kenntnissen nie ausgewichen, haben zur Kenntnis genommen, was immer uns in den Weg kam. Das hat uns seit damals, seit Stomps und seiner Rabenpresse2 verbunden, ohne daß wir einander je begegneten. Das war und wird auch nie nötig sein. Wir leben da in einer sphärischen Freundschaftsbindung. Die ähnliche Anschauungskugel umschließt uns. Ich habe Ihre Gedichte (...) immer gelesen. Und mich dabei nie ausgeschlossen gefühlt. Da ist ein Ton, ein Klang, Ihr So-sein andeutend. Das berührt mich als Melodie, kommt mir gelegentlich in den Sinn wie eine Zeile Chopin. Ihr körperliches Lebensschicksal zwang Sie, stärker als mich, der ich ein anderes befehlige, Ihr Gedachtes, Empfundenes, Geschriebenes der Umwelt wichtig zu machen. Ihr Austauschverfahren. Dazu gehört auch Ihre geschickte Selbstpropaganda, die ich immer ein wenig neidisch bewundere. Das hat sich mir, zum Schaden des „Werkes“, versagt. Ich bewege mich im Leeren, nur durch die Wucht meiner Verzweiflung zusammengehalten.
Auch Ihnen wird das Meer die Mutter aller Dinge sein. Alle Meere kranken. Jeder Regen, der heute, gleich wo, fällt, führt Giftspuren. Wenn Sie mir zeigen können, wie Poseidon das Nessushemd abstreifen soll, das wir ihm angemessen haben, wird mir wohler sein. Aber die Jungen, statt zu lernen, wie man ihm dabei helfen könnte, verbrennen sich in toten Ideologien, Schrei und Rausch, während ihnen der „Teppich des Lebens“ unter den Füßen zerfällt.
Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem Vorhaben in den USA3. Wenn Ihre Gedichte den jungen Menschen die Augen öffnen für ihre einzige, allein noch wichtige Aufgabe, will ich Sie und Ihre Wirkungen preisen.
Nebenbei: Lesen Sie englisch oder deutsch? Sie gehören schließlich noch zu den Letzten, deren Aussage in ihrer Reinheit übersetzbar bleibt.
Ihnen Herzliches
Ihr Helwig

den 13. 12. 71
Lieber Rolf Bongs.
Ich büße das bißchen Gesundheit, oder, sagen wir meine Vierschrötigkeit im Genießen, die ich Ihnen vielleicht voraushabe, durch Bescheidenheit ab. Es ist mir nie gegeben gewesen, auf mich aufmerksam zu machen. Sie nehmen sich das Recht dazu durch das Leiden, das Sie mir voraushaben. Oder auch: das Leiden gibt Ihnen das Recht und damit die Energie, auf sich aufmerksam zu machen. So ungefähr fiel es mir heute nacht im Nachdenken über uns beide ein. Es erscheint mir nicht unbedingt falsch.
Das Leiden – möchte ich vermuten – hat Ihre Sprache vereinfacht und damit erhöht, während bei mir das romantische Wuchern im Wort fortdauert. Grund, weswegen ich mich der Kritik zugewandt habe, in der ich nun, wiederum versteckt, hintergründig bescheiden, das Meine (sozusagen unbemerkt) zur Geltung zu bringen trachte. Eine verkehrte Kapitalanlage, wie mir Freunde weismachen wollen. Aber da ichs zufrieden bin – warum nicht? „Begegnungen“, ach ja, das sollte sich wohl mal als Buch begeben. Aber läge nicht darin auch wieder so eine Art Selbstverhehlung? – Fuhrmann4, Sie sollten ihn sich nicht ersparen. Er gehört zu den eigenwilligsten und anregendsten unter den Sektenpäpsten der Goldenen Zwanzigerjahre. (...) Ich wünsche Glück. Und Kraft, darin durchzuhalten.
Immer Ihr Helwig

den 18. Juni 77
Mein lieber Freund Rolf Bongs.
Ich lese Ihre sehr ernsten, aus vollständiger Ehrlichkeit lebenden Gedichte „Rechenschaft“ eins nach dem andern vorsichtig hineinhorchend morgens auf der Terrasse angesichts der französischen Alpen, die – immer noch – tief hinab in Schnee und Eis starren.
De profundis. Man kommt dahin. Was heute Welt ist, fügt sich in keinen Begriff mehr, wie wir ihn uns in unserer Jugend ausbilden konnten. (...)
Um mich über den Stand heutigen Literaturgeschehens auf dem Laufenden zu halten, las ich Pepin F. „Magic 17“, die abscheulichste Romanze, die sich der heutige Limes geleistet hat. Um einen geldeinbringenden Sex-Bestseller aufzulegen. (...) Sowas geht heute in tausende von Händen, modifiziert oder weckt satanische Lüste. Und die sollen dann den Limes-Benn lesen. Durch den Filter einer gar nicht mehr zu bewältigenden Verdorbenheit.
Da verbleicht dann alles. Jahnn z.B. im nachhinein gelesen, kann nur noch brüllendes Gelächter wecken. Schon verliert sich ohnehin das Gehör für ihn. Meine Jahnn-Erinnerungen5, Frühjahr erschienen bei Hase und Koehler, Mainzer Akademie-Reihe, machen überhaupt keine Spur. Nur Krolow6 nahm sich ihrer rühmend an.
Ich hätte nie geglaubt, daß die Dinge, für die wir warben, sich so in Verlust verwandeln würden. Jahnns Tendenz – die Heiligung des Fleisches – kommt als Morast zum Ausdruck.
Man läßt sich so zuende leben, ganz aufs Private eingeschränkt. Man weiß allzugenau, daß die Wendung, die die Sprache genommen hat, nicht mehr korrigierbar, nicht mehr zurücknehmbar ist. (...)
„Schade um den Menschen“, wie Strindberg schon voraussah. Doch es war nicht die Absicht dieses Briefes, die gemeinsame Traurigkeit noch zu vermehren. Er sollte eigentlich ein Gruß geworden sein, so über die scharfigen Schranken hinweg, und eine Zusicherung meiner herzlichen Anteilnahme an Ihnen und Ihrer produktiven Tapferkeit.
Hand und Herz Ihres
Helwig

den 7. 7. 77
Lieber Freund Rolf Bongs.
Ihr Brief hat uns sehr betroffen. Man wähnt immer, um den andern Bescheid zu wissen. Und es kann doch nie das Ganze sein. Man ist nicht in seinen Schuhen.
Damit Sie etwas besser in uns hineinsehen können, lege ich meinen letzten Brief an unsern Hausarzt bei und einen Traum (...). Er kennzeichnet, äußerlich betrachtet, genau, was hier vorgeht: Lärm von oben, Lärm von unten: tobende Kinder, die sich unbewußt an der Hysterie der Zeit entzünden. Von unten: pausenlos geführte Kriege mit Plastikwaffen und unentwegt mit dem Mund hervorgebrachten Waffengeräuschen MG, MP, was Sie wollen. Bis zur Ausheiserung. Die Stimmen solcher Buben und Mädchen (zwischen 3 und 6 Jahren, bitte sehr): bis es sich zu einem allgemeinen tierischen Schrillen verbindet. Dazwischen Kanonenschläge und Knatterplätzchen, die das letzte an möglicher Knallqualität hergeben. Was sind das für Eltern, die das ja schließlich auch im Echo der Betonwände erreichen muß. Sie tun nichts dagegen. Es sind halt Ferienspäße. Dazu das entsprechende Wetter: Lupensonne und Kalte Gewitter in einem Schnellwechsel von 12 zu 12 Stunden. Oropax hilft nichts dagegen, denn „der Körper hört mit“. Meine Arbeitsstunden spielen sich also ab in einer Art Dauerkriegs-Sphäre. Dazu die Gußformen der Neubauten, die trotz aller behaupteten Bautätigkeitseinschränkung pausenlos Gartenboden, Parks usw. in Beton verwandeln. Wir sind von einer grauweißen Wüste umgeben. Nur über all das hinwegblickend (10. Stock) gewahren wir die französischen Alpen. Nur über das hinweghörend vernehmen wir manchmal aus fernen, noch intakten Gärten morgendlichen Vogelsang. Auch von den Uferböschungen der Arve her, die im übrigen industrieverschlammt ist und grauenhafte Bänder an den Ufern absetzt. Öl und Dreck, in dem weiße Plastikblöcke, Verpackungsrudimente von Radio- und TV- Geräten dümpeln. Und doch mögen wir nicht weg, weil wir manchmal nachts herrliche Bergluft haben, während in anderen Zonen Genfs die ganze Nacht Automief lastet.
(...) Dies ist die Wahrheit über uns. Die wahre Wahrheit ist immer mit der Qual identisch. Das hat uns das Sein in dieser Zeit gelehrt.
Dies, um Ihnen mitzuteilen, daß auch wir „Geprüfte“ sind. Nichtgeprüfte können für uns gar keine Geltung mehr haben. Übrigens fehlt mir Ihr Buch „Die tiefen Augen Griechenlands“7. Nein, so haben wirs uns nicht vorgestellt, als wir damals in Berlin bei der Rabenpresse unsere ersten Bücher starteten.
Ihnen herzlich verbunden
Werner Helwig

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1 Rolf Bongs (1907-1981), dt. Schriftsteller. Romane: DIE FEURIGE SÄULE; DAS LONDONER MANUSKRIPT; DIE GROßEN AUGEN GRIECHENLANDS (Tagebuch). Lyrik: RECHENSCHAFT u.a.
2 V.O. Stomps, Kleinverleger, der junge Talente entdeckte und förderte, hatte 1935 im Verlag RABENPRESSE eine kleine Anthologie mit Gedichten u.a. von Bongs und Helwig herausgegeben.
3 Bongs ging 1971 als „visiting professor“ nach Amherst/Mass.
4 Ernst Fuhrmann (1886-1956), dt. Schriftsteller, „Biosoph“. „Völkerkunde- und Biologie-Dichter“ (W.H.)
5 W.H., DIE PARABEL VOM GESTÖRTEN KRISTALL. 1977
6 Karl Krolow (1915-1999), dt. Schriftssteller, Lyriker, Essayist, Kritiker
7 Der Titel lautet korrekt: DIE GROßEN AUGEN GRIECHENLANDS











Werner Helwig an Ernst Jünger1 (> Ernst Jünger )

Montag, den 4. Nov. 74
Lieber Ernst Jünger.
Sie kommen manchmal in Träumen vor. Beweis für die Anziehungskraft, die Sie auch im vom Tagesbewußtsein nicht mehr kontrollierten Raum bewähren. In den „Strahlungen“ gibt es eine Notiz darüber.
Mir träumte, ich hätte einen Willkürtag erfunden, von dem aus man ganz nach Laune jeden beliebigen Tag der Woche, die sich gerade begibt, antreten könne. Durch eine solche freie Verfügung war ich an Sie geraten. Indem ich es Ihnen verriet, warnten Sie und sagten, man würde dadurch Abläufe stören und Strahlungen (kann auch sein, daß Sie Einstrahlungen sagten) verwirren.
Sie boten mir nun an, mich den Weg, den ich vorweg genommen hatte, zurückzuführen. Ich war einverstanden und wir marschierten los. Der Weg hatte eine sanfte Neigung, war schattenhaft von so etwas wie Bäumen begleitet, gleichwohl nachmittagshell. Da meine Schritte unsicher waren, nahm ich Ihren Arm, den Sie mir ließen. Er war dünn, drahtig, starr. Ich fühlte ihn gut durch Ihren Jackenärmel hindurch.
Nun stellte sich das Merkwürdige ein, daß ich die Füße nicht mehr zu bewegen brauchte. Ich glitt, und das war ein wunderbares Gefühl. Unterwegs – wir waren noch nicht bei dem zuständigen Tag angekommen (kamen auch nie dort an, - der Traum endete vorher) – äußerte ich, jetzt erst verstünde ich das berühmte Gedicht von Jakob von Hoddis aus der Anthologie „Menschheitsdämmerung“2, das mit den Worten „Die Leute stehen vorwärts in den Straßen“ beginnt. Sie korrigierten mich, das Gedicht sei von Georg Heym, auch hieße es nicht „Leute“, sondern „Menschen“, im übrigen aber sei meine Erinnerung berechtigt. – So endete der Traum, den ich sofort notierte.(...)

den 14. Nov. 75
Lieber Ernst Jünger. Anziehungskraft des Bezüglichen: Um unserem Hauslärm einen verzauberten Lärm entgegenzusetzen, habe ich mich – zum erstenmal – darauf eingelassen, den ganzen „Ring“ methodisch abzuspielen und Text dazu zu lesen. Gut. Ich schlage zu gewohnter Lektüre-Stunde mein altes „Strahlungen“-Exemplar (1949) auf und finde gleich am Anfang Ihre Eintragung zu Wagner. Was da steht, ergänzt sich treffend mit meinen Eindrücken. Auch Ihre Vermutung, daß Baudelaire auf W. hereingefallen sei. Doch etwas ist da anzumerken. B. erschuf Urbilder, indem er sie aufdeckte, W. bastelte sie, um Gerüst für seine Klangvorstellungen zu haben. Und wenn er Visionen aus Klängen fügt, so sind diese mindestens als orphisches Rauschgift bedeutend. Ich sehe (höre) da Zusammenhänge übernationaler Art.
Macphersons Ossian, Blakes Mythen, Malorys Artus, Füssli und Ingres mit ihren neurotischen Sagengemälden: die Hochromantik, die aus ihrem Selbstzerfall noch das Tiefste gewinnt.
Ich gestehe, daß ich mich dem heute gern ergebe, steckt doch ein großes Stück meiner Kindheit mit in diesen Stimmungen: mein Marionettentheater, die „Konzertzither“, auf der ich selbsterfundene Melodien dazu spielte. Vorführungen auf dem Estrich vor „zahlendem“ Kinderpublikum (das immerhin doch auch).
Und noch bei der Lektüre von Joyce, der ja eigentlich Opernsänger werden wollte, finde ich dicke Nachklänge davon. In seinen Gedichten zumal, durch den ganzen Ulysses zieht sich das in empfundenen Anspielungen und ganz gegenwärtig ist es in dem Sagenkonglomerat Finnegans Wake. Dann wieder „wagnert“ es mir bei Däubler. Klangballungen, denen ich mich nicht entziehen kann – und will. Dieser Brief: aus einer momentanen Wallung hervorgegangen. Vielleicht ein Zeugnis „bürgerlicher Fluchtbewegung“, wie mans heute nennen würde. Ihnen Herzliches
Ihres Helwig

den 15. Nov. 75
Lieber Ernst Jünger. Ich muß ganz gegen meine Gewohnheit ein drittes Blatt an die eben vorangegangenen anschließen. Hier traf – von Ihnen doch wohl veranlaßt – Danke – der Briefwechsel mit Kubin und Myrdun3 (...) zu gleicher Stunde ein. Kubins „Der Mensch“, das ist schon eine verrückte Koinzidenz, schreckte mich auf, als ich 17 war. Befand sich, nebst „Krieg“ und einer geflügelten Furie, im Almanach des HyperionVerlages von – scheint mir – 1912. Da begriff ich zum erstenmal, daß Kunst nicht nur illustrativ oder etwas in sich selbst Fixiertes sei, sondern auch Philosophie auszudrücken vermöge. Zusammen mit Meyrincks „Golem“ riß mich das damals, Kabbala und Tarockkarten einschließlich, in einen Abgrund von Spekulation. Bis heute nicht vergangen, nur immer stärker sich artikulierend.
Kubins „Andere Seite“ war uns, zusammen mit Kafkas „Schloß“ in den Jahren der Emigration in Liechtenstein, ein Born dauernd bemühter, grimmiger Zitate. Siehe meinen Liechtenstein-Roman „Der silbergrüne Drache“4. So bestand also, auf dem ganz anderen Ufer des Befindlichen, auch hierin eine seltsame Verbindung zwischen uns beiden. Ihr Gedicht zu „Der Mensch“ könnte ich mit einem damaligen meinigen beantworten. Närrisch all das, und so ungewollt, wie es nur sein kann.
Die Faszination durch Kubin wurde dann allerdings bei mir durch Odilon Redon5 abgelöst. Meine Kubinsammlung (aus dem Kunstwart gelöste Blätter, viele von ihm illustrierte Bücher, Mappen wie „Abenteuer einer Zeichenfeder“ usw.) blieb dann im Haus meiner Eltern in Hamburg unter den Bomben. Wie gern würde ich das gerade jetzt wieder durchsehen.
Mit herzlichen Grüßen
Werner Helwig

den 16. Okt. 76
Lieber Ernst Jünger.
Ich habe Abschied genommen von Capri. Die Insel ist in einem Maße entstellt, daß sie nur noch von fern, als Schattenriß, sie selber zu sein scheint. Der Abschied fiel mir nicht schwer, aber die Schwermut befiel mich.
Ich habe Abschied genommen von Paestum. Die zahlreichen Gräberaufdeckungen bezeugen die Anwesenheit der Etrusker, oder mindestens ihren Einfluß. Man wähnt sich in Tarquinia. Auch sonst ist vieles ganz Unerwartetes an den Tag gekommen. Die Sensation hat sich nun auch in Italien durchgesetzt. Aber zu Ungunsten der schönen freien Landschaft ringsum. Paestum ist Mode geworden. Trotz staatlichen Verbots haben sich Hunderte von Sommervillen im Gelände eingefunden. Man baut heimlich, die Ortsbehörde wird bestochen. Wenn das Ding auf dem teuer gekauften Boden dasteht, ist der Staat machtlos. So sind nun die ehrwürdigen Tempel im weiten Halbkreis umlagert von Pappkästen in schreienden Farben. Samstags ein Autoverkehr wie in Florenz. Also Verzicht, von Trauer beschwert. Hier wollte ich mal – plante ich in jungen Jahren – angesichts der Tempelfronten aus dem Leben abtreten. Nun will ichs bestimmt nicht mehr.
Einschränkung auf was hin – ich weiß nicht. Man gibt nach, man gibt ab, man gibt auf. Bitternisse, von denen Sie vielleicht gar nicht gern werden wissen wollen. Im übrigen: ich lebe, tue das Meine, sehr viel im Steinzeitlichen beschäftigt. Nur der Rückwärtsblick trägt noch ein. Ich sandte Ihnen übrigens – das ist nun schon 2 Monate her – meine Altamira-Meditation (als Drucksache) und erhielt nie ein bestätigendes Wort von Ihnen. Auch das stimmt mich traurig. (...)

den 4. Dez. 76
Lieber Ernst Jünger.
Ich freue mich auf die angekündigten Fahnen Ihres neuen Romans. Vermute dabei, daß irgendwie mich besonders Betreffendes drin vorkommt. An sich ja immer bei all Ihren Arbeiten gegeben. Man sucht und schaut sich in dem Spiegel, den der andere unabsichtlich gezielt in die Gegenden der Welt hält. Mir gelingt nicht mehr, oder kommt als Wunsch nicht mehr vor: im Erzählen länger durchzuhalten. Was sich einstellt, schlägt sich – nun schon seit den Waldregenworten6 – und die begannen 1938 in der Bibliothek am Markusplatz, neben Percy Gothein7 sitzend, der 5 Jahre später im KZ umkam – als Aphorismen nieder. „Überstände“, - das sind jetzt 400 Seiten und immer noch ist das Ende nicht abzusehen.
Etwas betroffen stelle ich dazu fest, daß diese Mitteilungsform auf Telegrammformularen anfängt, überall aufzukommen. Anfänglich war ich noch ziemlich allein damit. Der gegenwärtige Weltzustand scheint das aufzuzwingen, so wie sich das Sonett eine Weile lang am strengsten in der Todeszelle fügte. Man lebt also immer auf Wellenlängen, in die viele verknüpft sind.
(...) Gelingende Festtage wünsche ich uns beiden. Die sind schwer zu haben, dünkt mich. Getreulich der Ihre
Helwig

(ohne Datum, evtl. Juli 81. U.P.)
Lieber Ernst Jünger, mit meinem Dank für Buch und Widmung verbinde ich eine kurzfristige Mitteilung. Die zwar von Ihnen angekündigte Absendung verursachte mir den ersten Wahrtraum meines Lebens. Es gab wahrscheinlich deren mehrere, doch sie entgingen meiner Aufmerksamkeit, oder sie waren so labyrinthisch verklausuliert, daß ich nicht dahinter kam. Mir träumte einen Tag vor Postempfang, ich hielte das Paket in der Hand. Mit einer Deutlichkeit wie gestochen erschien mir als Anschrift mein Name, aber Ihr Absender lautete: „140105 Eumeswil“. Aufgewacht notierte ich das sofort, was ich mir schon während des Traumes vorgenommen hatte. Diese Tatabsicht mag auch wohl mein Erwachen bewirkt haben. Nun, die Ziffer bedeutet in herkömmlicher Abkürzung nichts anderes als mein Geburtsdatum 14.1.05. (Berlin). Ich kann darin freilich nichts anderes erblicken als den ahnungsvollen Hinweis auf die erstaunliche Beziehungsfülle, die mir Ihr Tagebuch bietet. Fast alle mit meiner Wanderschaft durch das Geistwesen unserer Epoche verbundenen Namen tauchen auf. Ich halte bei der Lektüre im Moment bei S. 270. Bis dahin kreuzte ich an:
Fuhrmann, Klages, Däubler, van Gogh, Kerényi, Spengler (Ihr Wort dazu hat mir ein endgültiges Licht aufgesteckt), Poe, Justinius Kerner, G. Marcks, Kassner, Eliade, Hölderlin, Trakl, Bosch (...), de Guèrin, Pound, Blüher (mit seiner Fehldeutung des Nachtigallenschlags), Flaubert, Horst Schade, (ein Braver, mit dem ich vor seiner Abreise nach Jerusalem viel auf Capri zusammen war), Joseph Conrad, Borges (mir seit langem ein Born der Überraschungen), Barrès (sein mir für immer unentbehrlicher El Greco).
Dazu Ihre Reiseziele: oft mit den unseren datengleich zusammenstimmend. Sonderbar, daß wir da nie aufeinander stießen. Ich meine auch, man sollte vielleicht nicht daran rühren, wenns nicht der Zu-Fall fügt.
Namen, die bei Ihnen nie vorkommen (oder meiner Aufmerksamkeit entgingen): H.H. Jahnn, Großmeister des Orgelbaues mit vollständiger mitgeborener Kenntnis der von Hans Kayser ermittelten Maß-Verhältnisse zwischen Zahl, Ton und Baugefüge. Pannwitz, Kafka, der Barockpsalmist Quirinus Kuhlmann (vorzügliche Auslese bei Reclam), Fischarts deutsche Neuschöpfung des Rabelais und die außerordentliche Seltsamkeit des Dichters Corbière.
Aber ich könnte mir vorstellen, daß Ihr Auslassen etwas mit einer wortlos deutlich gemachten Reserviertheit zu tun habe.
Herzliche Grüße für Sie und das – wenn ichs so nennen darf – Stierlein.
Helwig

den 28. 7. 82
Lieber Ernst Jünger,
dieses betrifft meine Erklärung, warum ich nicht nach Frankfurt komme zur Preisverleihung. Mein Wesen ist abhold allen offiziellen Anlässen. Als ich zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes zur Botschaft (kleine Feier) eingeladen war, lehnte ich ab und der Botschafter kam mit der Auszeichnung (I) zu uns ins Haus.
Zwischen Ihnen und mir ist der briefliche Kontakt fast völlig eingeschlafen. Ein natürlicher Vorgang, scheint mir. Wir sind im Alter nur 10 Jahre auseinander, wir übersehen uns ganz gut nach Maßgabe unseres Vermögens. Meine Traumbeziehung zu Ihnen ist stark und auskunftgebend. Mich dünkt, das sei soviel, daß es genügt.
Meine Gratulation für die Ihnen erwiesene Ehre sei herzlich. Auch freut mich diebisch die Verlegenheit der heutigen Schreibmafia. Wir befinden uns oft reisend auf gleicher Fährte und erfahren das hernach mit Vergnügen (bestätigendem Vergnügen) aus Ihren Publikationen.
Also Hand und Herz Ihres Helwig

1 Ernst Jünger (1895-1998), dt. Schriftsteller. Werke: IN STAHLGEWITTERN; AUF DEN MARMORKLIPPEN; STRAHLUNGEN; EUMESWIL; SIEBZIG VERWEHT u.a.
2 MENSCHHEITSDÄMMERUNG – SYMPHONIE JÜNGSTER DICHTUNG. Anthologie expressionistischer Lyrik., hrg. v. Kurt Pinthus. 1920
3 Ernst Jünger, Myrdun. Briefe aus Norwegen. Mit Zeichnungen von Alfred Kubin
4 1960 unter dem Titel DER SMARAGDGRÜNE DRACHE erschienen
5 Odilon Redon (1840-1916), fr. Maler und Graphiker des Symbolismus
6 W.H., Waldregenworte. 1955
7 Percy Gothein: Humanist und Erzieher, umstrittenste Figur des George-Kreises, †1944 im KZ Neuengamme











Werner Helwig an Monika Mann1 (> Monika Mann )

den 29. Juni 69
Liebe Frau Monika.
Getreulich habe ich, wie alle Ihre Dinge, die ich in der Presse antreffe, den Artikel in der TAT ausgeschnitten, schicksalhaft tritt er da neben meinen Anmerkungen auf. Und vertritt, mich urbekannt anwehend, jenen mystisch gestimmten Optimismus, der einen nur auf Capri befallen kann und mit dem man „Andersgläubige“ (ich kenne das aus meinen langen Caprijahren) gelegentlich gutgelaunt düpiert.
Wir waren dort, hatten zweimal glücklos das Quartier gewechselt (...). Wir waren schließlich so verstimmt, (...) daß wir flohen, ohne Ihnen den längst fälligen Besuch abzustatten. Aber ich hätte in dieser Verdrußverfassung ohnehin nicht den Mut gehabt, einem Menschen, der wie ich bleibend Capripassionist ist, gegenüberzutreten. Ich war zu „sauer“. (...) wir büßen die Caprilust mit Arztvisiten. Natürlich ist, wie uns alle alten Bauernbekannten in Anacapri versicherten, das „Weltwetter“ dank den Experimenten „kaputt“.
(...)
Da ich an einem neuen (meinem 4.) Capribuch2 arbeite, werde ich wohl nach diesem Fragmentbesuch in der warmen Zeit noch einmal kommen. Wahrscheinlich allein, denn das Geld fließt einem dort immer doch so rasch durch die Finger (...).
Oder planen Sie für die Saison kontinentale Ferien?
Ihnen immer herzlich verbunden
Und mit den schönsten Grüßen auch von meiner Frau
Ihr Helwig

den 23. März 71
Liebe Monika Mann. Weiß Gott, alle können schreiben, vom Flaschensäugling aufwärts bis zu den ganz Alten und das Besserwerden in der Welt wird immer schlechter. (...)
Ihr Briefpapier erinnert mich an die Taschentücher, die ich als Sextaner mit der Korrigiertinte des Lehrers einfärbte, um Nasenbluten zu simulieren, damit ich nach Hause geschickt würde. Bei verschiedenen Lehrern klappte es verschieden gut. Einer aber roch am Taschentuch. Und da wars um meinen fröhlichen Betrug geschehen. Die Tinte verriet sich und mich. (...)

den 15. Okt. 71
Liebe, verehrte Monika Mann. Wir sind von drüben zurück. Meine Sympathie für die USA hat nicht gelitten. Anscheinend trifft jeder immer das im Leben an, was seines Wesens ist. Die moderne Amerikaverteuflung scheint ein vom potentiellen Gegenüber genährtes Zweckgebilde zu sein. In diesem Sinne möchte ich mit H. v. K.3 - wenn da überhaupt Aspekte allgemein gültig sind – sagen: Alle Völker sind scheußlich. Ich las inzwischen Ihre Note zum Film „Tod in Venedig“ in der braven St. Galler. Wir sahen ihn drüben. Ich empfand ähnlich, wenn auch meiner Art zu sehen entsprechend.
Hier las ich jetzt, zur Ergänzung, die Novelle zum erstenmal wieder nach wirklichen 50 Jahren. Damals bewegte sie mich sozusagen erzieherisch-realistisch, indem ich meinen Blick dazu erzog, nicht mehr nur Mädchen wahrzunehmen. Heute hatte ich Mühe, den Text mit seinem stellenweise fast hexametrischen Pathos zu bewältigen. Unwahrscheinlich genußbietend natürlich wie immer das Ironische darin, in einem dichten Rankenwerk von überzüchteter Stilisierung gut versteckt.
Den Dienst am Schönen, wie auch immer gefordert oder entschuldigt, haben die heutigen Schreibhyänen ja ganz ins Vulgäre verkehrt. Er dürfte kaum je in dieser antikischen Fassung wiederkehren. Man hat ja die Asche selbst noch wieder und wieder verbrannt. Am Filmtadzio fällt mir auch eine gewisse Nähe zum Hippietum auf, in welchem ich nichts „Erlöserisches“ mehr zu sehen vermag. Seit sie sich hier in Genf in Tupamaros verwandelt haben, die mit Schmutz und Plastikbomben (...) operieren, und die, wo sie gehockt haben, feuchte Flecken zurücklassen. Dazu Gesichter, aus deren Bärenhäuterbärten nur noch der Nasenknopf als menschliche Erinnerung ragt.
Dies nur als Lebenszeichen und Gruß. Ich hatte vor, einige Herbsttage auf Capri hinzubringen, aber die hier aufgelaufene Post und die zu bewältigenden Aufträge wollten es nicht erlauben.
Ich denke, im frühen Frühjahr wird es möglich werden.
Bis dahin
immer Ihr Helwig

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den 27. Aug. 75
Liebe Freundin.
Sie haben Glück, daß wir gerade zwischendurch mal zu Hause sind (zurück von Malta, unser Ersatz-Capri) mit einer Buchung (...) nach Japan vor uns und daß ich ein guter Aufbewahrer bin.
Natürlich hat mir Ihre Klaus-Dichtung4 sehr gut gefallen. Mögen Sie einen guten Platz dafür finden.
Ich lernte damals Klaus in der Garderobe von Erich Ziegels Hamburger Kammerspielen anläßlich der Erstaufführung von „Anja und Esther“ (hervorragend inszeniert) kennen. Er lud mich in seine Pension an der Alster ein, wo er mich – ich hatte schüchtern angeklopft – in einer seidenen Mantille empfing, um sich sogleich wieder an einem Toilettentisch niederzulassen, der reich beschickt war mit einer Sammlung von Salbentöpfchen, Parfümflaschen und Riechwässern, einer Dame würdig. Ich kam mir nicht so ganz passend in diesem Milieu vor, trug mich eher in der Art von Brechts Seeräuberballade und druckste so herum. Klaus warb durch Schweigen und erwartete von mir ich weiß nicht was. Schließlich, nachdem er sorgsam etwas Rot aufgelegt hatte, erhob er sich und bestellte Tee für uns beide. Ich versuchte, über Paulus (den so gut im Stück Karikierten) mit ihm ins Gespräch zu kommen. Odenwaldschule, Jugendbewegung, den Bund der Nibelungen, den Vater Thomas patronierte, aber es kam mir so vor, als ob er Gründgens aasige und höhnische Eleganz nachzuahmen versuchte, und wußte nicht, ob das als Parodie gemeint war und ich dazu lachen sollte. Er entließ mich mit einer Freikarte für die 2. Aufführung. Orchestersessel oder so, ich hätte gar nicht den Anzug dafür gehabt und schenkte die Karte später weiter, an Friedel Harms, den Freund von H.H. Jahnn. Fortsetzung folgte nicht, denn ich hätte bei dieser Aufführung wieder in seine Garderobe kommen sollen. (...)
Ich aber las dann Klausens Bücher, wie sie kamen: Vor dem Leben, seine Anthologie junger Dichtung usw.
Kontakte ergaben sich keine mehr, obwohl ich Klaus einmal nach München an die väterliche Adresse schrieb.
In München habe ich dann mal im Vagantenkostüm bei Vater Thomas vorgesprochen, wurde zum Nachmittagskuchentee eingeladen (wo ich mich gründlich bediente, ich hatte Hunger) und so zwischen der Post, die Vater Thomas durchsah, nach der Hamburger Aufführung gefragt. Bei der Gelegenheit äußerte Th. M. dann: „Er ist sehr morbid“. Ich schlug das mir unbekannte Wort später im Lexikon nach. Später – selber Emigrant – traf ich Th. M. in Zürich in der Bahnhofstraße wieder, mit Zigarre und Clan.
Ich grüßte, aber er mochte sich wohl nicht mehr auf mich besinnen. (...)
Soweit meine Erinnerungen
Immer sehr herzlich Ihnen verbunden
Helwig

den 1. Nov. 75
Liebe Freundin.
Köstlich, Ihr Dialog im Alltag in der letzten TAT. Sie behaupten einen Platz ganz für sich im Königreich Mann und Sie wären auch, ohne diesem Königreich anzugehören, eine Denk-Schreiberin von hohen Graden. Das heißt: Sie schreiben denkend, denkend schreiben Sie und wer sich da hineinziehen läßt, setzt das Denken (Ihr Denken) ein Stück weit mit sich selber fort. Zählen Sie mich zu den immer Wachen, immer bereiten Verehrern Ihrer Kunst.
Sie in Capri besuchen: ein schon lange bestehender Vorsatz. Warum es nicht geschieht, hat etwas mit Angst zu tun, Angst, dieser Insel heute wieder zu begegnen, da sie mir ein Leben lang Mittelpunkt „mythischer“ Erregungen war. Kennen Sie eigentlich mein bei Limes erschienenes Capri-„Bekenntnis“? Sollten Sie sich doch beschaffen. Ich besitze kein einziges Exemplar mehr, leider. Das würde Ihnen mein Zögern erklären.
Klaus: ich habe Ihnen meine Erinnerung so genau wie möglich dargestellt. Das hat gar nichts mit Ablehnung seiner „Linie“ zu tun. Ich würde für meinen Fall, käme mir so was nah, keinen Augenblick zögern, mich davon verwandeln zu lassen. Es wäre natürlich immer ein Tadzio. Älter empor kann ich mirs nicht vorstellen. Wos dann nämlich in „Milieu“ übergeht, bin ich aufgeschmissen. Den Kopf von Klaus, damals in Großaufnahme auf der ersten Seite der Hamburger Fremdenblattbeilage, hatte ich lange an der Wand, auch verschiedentlich zu zeichnen versucht. Sein Kummerweg ist mir lange nachgegangen. Aber ich fürchte, über gewisses Literarisches hinaus hätten wir uns kaum verstanden. Es spielt da bei mir nämlich so eine Manie, ob wohl jemand, hätte er mich gekannt, seinen Rückzug aus der Erscheinung gestoppt hätte. Heute allerdings bin ich nicht mehr dieses Glaubens. Ich wähnte nämlich lange, ich besäße einen besonderen Nachschlüssel zu den „Geheimnissen“, die das Leben unwiderstehlich würzen.
In der Hoffnung, daß diese Zeilen Sie in guter Gesundheitsform antreffen,
bin ich in herzlicher Verbundenheit
immer Ihr Helwig

den 11. Nov. 76
Liebe Freundin Monika.
(...) Daß der Fremdenfriedhof nun zum Tummelplatz jugendlicher Zerstörungshorden mit zertrümmerten und aufgerissenen Gräbern wurde, zeigt die Richtung, in der sich heute alles bewegt und zerregt. Schade. Auch daß man jetzt die stinkenden Abfälle von der oberen Gräber-Etage dort hinunterwirft, läßt darauf schließen, daß hier Einebnungen für eine Neunutzung nicht mehr im alten Sinne geplant sind. Die stille Versammlung derer, die Capri so liebten, daß sie dort begraben zu sein wünschten, wird in Kürze für immer aufgelöst sein. Vertriebene Laren, vernichtetes Geheimnis. Es gab eine Zeit, wo ich mir – Däubler gleich – wünschte, dort oder in Anacapri zur letzten Ruhe zu gelangen. Vorbei. Was jetzt mit mir geschieht – unser Familiengrab in Hamburg ausgebombt und nicht wieder hergestellt – , ist mir schon irgendwie egal. Die Welt ist nicht mehr da, für die und in der ich noch leben durfte. Bei der Überbevölkerung des Sterns Erde – heute 4 Milliarden, morgen acht – muß und kann ja alles nur noch Müll werden. Die Götter, der Gott, Gott – sie sind alle ausgewandert. Auch die Gebeine Rilkes mußten, bei Baureparaturen an der Kirche zu Raron, aus einem Kehrichteimer herausgesammelt werden. Der Zufall stand Pate. Sonst gäbe es heute nur noch das leere oder mit Bauschutt angefüllte Grab. (Und keiner würde das wissen...)
Zeichen, die sich nicht ignorieren lassen. Die Welt der verdichteten Momente ist vorbei. Die Wendung ins Banale total. Mit Grimm las ich, was der Literaturkritiker der FAZ, Herr Reich-Ranicki, über Ihren Vater befand: er habe nie wirklich gelebt.
Herzlichen Dank für die frühen Novellen von Klaus (...). Die TAT ist „tat“-sächlich zum Tode verurteilt. Andere Blätter in ihrer bisherigen Form ja auch. (...)
Das so angenehme Forum, in welchem man sich immer grüßend begegnen durfte(...), wird uns nicht mehr verbinden. Um so mehr müssen wir uns durch Briefe verständigen.
In diesem Sinne Ihnen herzlich zugetan
Ihr Helwig

den 6. 1. 77
Liebe Monika. Nehmen Sie mich als entfernten, zu Ihnen gehörigen Verwandten, auf dessen ständige innere Gegenwart Sie zählen können. Man braucht solche Verbundenheiten um so mehr, je älter man wird und je kälter es um einen wird, indem es sich lichtet wie ein Wald, der Baum um Baum in unwiderstehlicher Vollstreckung niedergehauen wird.
Ich bin jetzt 72. Die Briefe mit schwarzem Band kommen immer häufiger aus dem alten Freundeskreis. Es ist nicht leicht, unter solchen Umständen der Überlebende (der vorläufig Überlebende) zu sein. Die Furie des Verschwindens ganzer Stücke Welt umwütet einen. Daß auch Bibi5 dem Teufelsdreck der Drogen erliegen mußte, ich verstehe es im Gesamtzusammenhang alles Heutigen, das ja, nehme mans wahr oder nicht, mit schauerlichen Lasten auf einem liegt.
Auch zeigt sich, gegenüber solchen Schlägen, die Armut der Worte. Man muß es als Ganzes zu verstehen versuchen. Auch ich bin bedroht von solchem „Wegtreten“ im innersten Kreis. Auch ich sehe nicht voraus, wie ich, überlebe ichs, dann damit fertig werden soll.
Nein, er hätte das vielleicht nicht auf sich nehmen dürfen, das Durchforsten der Tagebücher seines Vaters. Es gibt Dinge, die besser nicht zu wissen sind. Doch man kann sich das nicht aussuchen. Überhaupt das Entscheidende, scheint mir: man kann sich nichts aussuchen. Noch den konsequentesten Eremiten würde es ereilen in der vollständigsten Abgeschlossenheit.
Die Nachrichten, die „Zuschläge“, der Vernichtungstumult, sie fänden ihren Weg. Gehört wohl mit dazu zu dem verrückten Verhängnis, Mensch zu sein. (...)
Seien Sie umarmt über die inneren Meilen hinweg
von Ihrem Helwig

den 7. 2. 77
Liebe Freundin.
Umstehend haben Sie es ganz genau und schwarz auf weiß. Uns alle, die wir seit Jahren freie ständige Mitarbeiter waren, trifft das schwer. Aber in der Schweiz spielt sich ein Zeitungssterben besonderer Art ab, so wie bei den deutschen Gazetten die Kulturseiten „geschrumpft“ werden. Unser täglich Arbeitsbrot verringert sich damit. Und da es einen Schriftstellerstreik nie geben kann, bleiben wir dem Phänomen hilflos ausgeliefert.
Wie gehts Ihnen im Häuslichen, hat es sich zur Erträglichkeit zurechtgeregelt? Von der Weltlage geht ja ein Druck aus, daß man nur noch gekrümmt herumschleicht. Trotzdem verliert das Private an Wucht nicht. Was einen trifft, schafft Wunden wie immer. (...)
Und seien Sie lieb gegrüßt von Ihrem
Helwig

den 10. Mai 80
Liebe Moni.
Von der Redaktion des St. Galler Tagblattes erfuhr ich, daß ein Geburtstagsartikel für Sie längst mit Herrn Georges Schlocker, Paris, verabredet sei.
Nun muß ich schauen, wo ich meinen unterbringe. Da sollte ich nun wissen, wo überall Herr Schlocker – ein achtenswerter Literat, dessen Artikel ich gern lese – seine Gratulation noch bringen wird. Ich möchte ihm da keineswegs in die Quere kommen und teile Ihnen deswegen hier mit, wohin ich meinen Schrieb (auf Verdacht hin...) geschickt habe: WELT, FAZ, Rheinische Post, Merkur und Neue Deutsche Hefte.
Ob er in Ihrem Sinne ist – ich habe Ihre Anregung, wie Sie ihn sich wünschen, auf meine Art wahrgenommen – weiß ich nicht. Eine Frau ist bekanntlich nie ganz zufriedenzustellen. Aber mir scheint er ganz gelungen.
Hier ist der totale Winter wieder eingekehrt. Bleigraue Stimmung. Am wärmsten ists in der Nähe des Küchenherds. Meine Capripläne leiden entsprechend. Denn von Freunden hörte ich auch von dort keine Gutwettermeldungen. Aber einmal sollten wir uns doch begegnen. Stellen Sie sich unter mir eine Kreuzung zwischen Bacchus und Weihnachtsmann vor. Je schwärzer die Zeiten werden, desto verbissener versuche ich einen Rest Heiterkeit für mich zu retten. Nun, das kennen Sie ja auch.
Ihnen, liebe Freundin, alles erdenkbar Gute
Ihres Helwig

1 Monika Mann (1910-1992), dt. Feuilletonistin und Schriftstellerin; zweitälteste Tochter von Thomas Mann, Schwester von Erika, Klaus, Golo, Elisabeth und Michael Mann. Werke: TUPFEN IM ALL; WUNDER DER KINDHEIT; VERGANGENES UND GEGENWÄRTIGES u.a.
2 CAPRI. MAGISCHE INSEL. 1973; vorher erschienen: DAS WAGNIS. 1947; CAPRI –LIEBLICHER UNFUG DER GÖTTER. 1959; CAPRI. 1960
3 Heinrich von Kleist
4 Text von Monika Mann über ihren Bruder Klaus Mann (1906-1949)
5 Michael Mann (1919-1977)











Werner Helwig an Walter Helmut Fritz1

den 2. Sept. 1975
Lieber W.H. Fritz.
Ich lese diese kluge Meditation des sehr schätzenswerten H. J. Heise (...).
Handelt es sich da wirklich wieder um die modische Frage der Suche nach der Identität? Ist das nicht die veränderte, verwissenschaftlichte „Weltschmerzlichkeit“ der Zwanzigerjahre? Damals wie heute ein Ausweichen vor dem Sehen, was i s t?- Jeder geleistete wirkliche Einblick in das, was um uns vor sich geht und uns ‚biologisch’ in Frage stellt, bedeutet doch, sich einem Druck aussetzen, der das schemenhafte Selbst zu basaltener Härte zusammenpreßt.
Das erinnert mich immer an ein Ereignis meiner Zeit als Fischer in Griechenland. Tobende Unwetter, mächtige Dünungen, Sturm und Regenschauer. Landen war wegen der meterhohen Brandung unmöglich. Einzige Rettung für unser kleines 2 ts Fischerboot, uns weit draußen, im Offenen, in Schwebe zu halten. Das konnte nur einer: mein Fischerkamerad mit den zwei langen, schweren Riemen. Ich lag, der günstigeren Gewichtsverteilung halber, am Boden auf den Planken, hatte den Kopf unterm Vordeck und leistete mir, statt zu beten, wie er es erwartete, den Frevel, die Raubfischerfahnen, die ich dabei hatte, mit Hilfe der Taschenlampe zu korrigieren. Somit war ich in höchster Gefahr in einer Art von Abwesenheit geborgen. Er spürte das und bekam eine solche Wut auf mich, daß es fast zu einer Prügelei (in dieser Situation) gekommen wäre. Ich löste ihn ab und er – betete. Nach 6 Stunden konnten wir im Windschatten einer menschenleeren Insel an Land gehen, indem wir uns von der Dünung auf den Strand setzen ließen, heraussprangen und mit jeder Dünung, die nachkam, das Boot ein Stück höher auf den Sand brachten. Nichts ging kaputt. Wir waren gerettet. Er sagte, während wir die Bootsgeräte und unsere Decken rennend höher hinauf schleiften: „Wenn ich nicht gebetet hätte“.
Da hatte ich, meine ich heute, mich ähnlich schuldig gemacht wie die heutigen literarischen Ignoranten.
Ihnen und Ihrer Frau Herzliches
Ihr Helwig

den 1. Okt. (lieber Himmel, wo bleiben die Monate?) 1977
Lieber W.H. Fritz.
Danke für kurze Zuschrift. Natürlich verstehe ich Ihre Lage gut, Sie müssen am Ball bleiben, solange Sie Öffentlichkeit haben. Außerdem müssen Sie das Klangbild Ihrer Vorstellungen fixieren, solange es tönt. Denn Sie sind ein Debussy, kein Bach, der immer in der gleichen Flutung stand, die sich sozusagen mathematisch dauernd aus sich selbst hervorbrachte.
Aber verkennen Sie trotzdem nicht die Qualität des Langsamen. Sich in Jahnn einlesen sollte ebenso auch wohl ein sich in ihn Hineinhören mitbedingen. Er ist am stärksten da, wo er sich in einem Raum befand, der ihm antwortete: und das ist für ihn das Skandinavische: Norwegen, Bornholm. Diese Länder kennen, bringt von selbst mit sich, Jahnn unverfälscht in seinen Impulsen zu erfassen. Alles andere in seinem literarischen Werk sind die Vorübungen aus der Kraft der Verzweiflung daraufhin. Dort dann gab ihm der Boden ein, was er vermochte. Ein Antaios. Seine Heimkehr nach Hamburg, nachdem ihm die Dänen sein Gut weggenommen hatten, lieferte ihn der absoluten Kläglichkeit eines Schwächlings aus. Diese paar Jahre bis zu seinem Tod in Hamburg erfüllten sich ihm in trostlosen Albernheiten. Der boshafte Bericht Fichtes darüber, „Roman einer Pubertät“2, S. Fischer, bringt das in seinen jammerhaftesten Formen zum Ausdruck. Das hängt ihm nun an und ist nicht mehr wegzubringen. Es infiziert das Jahnnbild der Inferioren. Man schafft sich Feindschaft an den Hals, wenn man dagegen löckt. (...)

den 26. 1. 78
Lieber Freund.
Danke herzlich für Ihren Geburtstagsgruß. Die Gedichte kannte ich schon vom Rundschauheft, in welchem Sie ja auch meinem Namen gleich zweimal begegnen mußten. Schiffsjunge Elpenor. Pannwitz widmete ihm ein Dramolet in seinen „Dionysischen Tragödien“. Wir sprachen einmal über das Rätsel, das E. aufgibt.
Er fällt, vom Trunk noch wirr, vom Dach. Wie hoch war das Dach? Denn Betrunkene fallen immer richtig.
Und wie lange ließ Dame Kirke ihn dort unbestattet liegen? Denn Odysseus brauchte vom Hadeseingang seetechnisch gewertet mindestens 6 Tage hin und zurück. Kirkes Insel war voller Tiere. Auch fressen Schweine tote Menschen ohne weiteres an. – Ein starkes Stück Seemannsgarn, scheint mir.
Dennoch war Homer, oder das Team, das sich hinter seinem Namen verbirgt, in seetechnischen Angaben so zuverlässig (auch die Beschreibung der Winde), daß man sich heute noch im Fischerboot danach richten kann.
Alles „innere Vorgänge“, wie die Esoteriker der Odyssee behaupten?
Den Kern treffend, ohne den Kern zu bezeichnen, auch Ihre anderen Gedichte. Am schönsten „Die Wolke“ mit den Schlußzeilen, wo plötzlich die Sprache selber leuchtend wird.
Wie geht es Ihrem neuen Roman?
Hier steht alles unter dem Sorgenunstern des Befindens meiner Frau. (...)

den 25. April 78
Lieber W.H. Fritz.
Meine neue Situation – eine mir noch gar nicht in allen Konsequenzen vorstellbare Vereinsamung (dabei 73) – brachte es mit sich, daß ich über Freunde nachdachte und die Möglichkeiten, wie weit mit ihnen zu rechnen sei. Über Sie kam ich zu folgendem Schluß: Er hat, dank einer spürbar einzigartigen Begabung, seinen Ruf begründet. Sein Name „steht“, ist im Begriff, Geschichte zu werden. Nun beginnt für ihn das „Kampfspiel“, ihn in dieser Position in Schwebe zu halten. Mit keinem Werk, das er von nun an veröffentlicht, darf er, im Sinne der oft sehr launischen Literaturkritik (siehe, wie Reich-Ranicki mit Martin Walser umspringt, mal vernichtend, mit Unfehlbarkeitsanspruch, dann wieder hoch, zu hoch hinauf), darf er sich schwächer zeigen, gemessen an dem, was er bisher geleistet hat. Das wird ihm die Schaffensunschuld nehmen. Er muß, was er auch aufgreift, mögliche Kritik mit einbeziehen in den Schaffensakt.
So muß er auch Begriffe, die in die Antike reichen, im Sinne ihrer allgemeinen Gebräuchlichkeit anwenden, ohne sich in ihre Ursprünge zu vertiefen, oder: zu verirren. Wie es mir gerne, aus Veranlagung, geschieht. Und damit die Unschuld meines „Dichtens“ einbüßte und zur Forschung und Kritik überlief. Von da an belastet, gegenüber dem freien Walten in der Sprachmasse.
Deswegen, so will es sich mir erklären, Ihr Zögern gegenüber meinen Anmerkungen zu Ihren odysseeischen Anspielungen. Stimmts?
Ihnen beiden wie immer herzlich verbunden
Ihr Helwig

den 30. Aug. 78
Lieber W.H. Fritz.
Dank für „Sehnsucht“ mit Widmung. Großartig, diesen Titel zu setzen ohne den heute üblichen zynischen Beigeschmack. Langsam schreite ich in der Lektüre vorwärts. Je älter man wird, bei mir ist das jedenfalls so, je geschlagener, desto vorsichtiger. Auch im Auf- und Annehmen von Wortfügungen. Möglichst so langsam und in solchen Zeitabständen, wie sie vermutlich entstanden sind. Der ungeeignete Moment kann die Erinnerung für immer beeinflussen. „...bis der Tag...in seinem Schlafprofil bei den Pappeln zur Ruhe geht“ hat sich mir im richtigen Moment eingeprägt. Das Schlafprofil hier bei mir, von der Terrasse aus, sind die französischen Alpen: mein Abendkonzert. „Die Dämmerung trägt Lichter zusammen“ (ich zitiere aus dem Gedächtnis) gehört für mich dazu. „Eine Gegend, in der Worte langsam erwachen“, die gewaltige Schwemmlandebene, zu der wir sonntags bei Morgensonne radeln. Ich beziehe alles, wie Sie sehen, ganz privat. „...der Regenpfeifer und der Ritterling,“ mir als Pilzsammler eher dem so benannten Pilz als dem auch so benannten Fisch verbunden. „Da der Augenblick sich erwärmt, wenn wir zusammen reden, gleich jetzt...“ verbindet sich mir mit der toten Yvonne3 und den ungezählten, heute bitter bereuten Stunden der Verfehlung, der nicht geleisteten Zusammengehörigkeiten. „Verschüttet“, ja. (...)
So weit bin ich bis jetzt. Sie sehen, ich lese Gedichtbücher von hinten nach vorn.
(...)

den 17. Okt. 78
Lieber W.H. Fritz.
Sie lassen mich ganz ohne Entgegnung auf meinen Brief, der, so schiens mir, Sie doch recht nahe anging. Wars vermessen von mir, Ihre neuen Gedichte zeilenweise auf meine private Situation anzuwenden?
Da muß ich gestehen, daß mir Gedichte seit je nie anders nahe kamen als in bezug auf Erlebtes, Erlittenes aus der Hexenküche der eigenen Existenz.
Wäre das sträflich, dann bin ich seit je in meinem Verhalten zur Poesie strafbar gewesen. Mir werden Worte nur wahr, wenn sie Selbsterfahrenes ansprechen, ausdrücken, bannen. So werden sie mir hilfreich, Merseburger Zaubersprüche sozusagen.
Vielleicht trennt uns ein wenig die Erlebnisdichte, die bei mir ja 7 Dezennien umgreift, bei Ihnen real weniger, obwohl ja in Gedichten zeitlos Zentralpunkte jeder Observanz zugleich offenbar werden. So schrieb ich mir als junger Mensch durch meine Gedichte ungewollt und unbewußt den Weg vor, den ich gehen würde. Sie erfüllen sich an mir selbst, und jetzt, nach dem Verlust von Yvonne, überhaupt.
Zweimal Weltkrieg, dreimal Revolution, Verlust all der Freunde, von denen ich wähnen durfte, sie würden mir als Schicksalsgefährten bis zuletzt gegenwärtig bleiben. Sechsmal aus dem Nichts heraus, ohne hilfreiche Vorbedingungen zur Selbstbegründung angesetzt. Immer wieder aus den Fugen gestürzt, bis das siebente Mal mir Genf zur widerwillig anerkannten Heimat werden ließ.
Endlich also die Einsammlung und ungefähre Verwirklichung aller meiner Vorhaben. Endlich die fast vollständige Erstellung einer Bibliothek, wie ich sie oft begonnen, bei erhoffter Seßhaftigkeit durchzuführen trachtete. Wenn das alles noch beisammen wäre, zusätzlich die Kunstdinge von nicht geringer Bedeutung, könnte ich – wie Yvonne scherzend sagte – ein Schloß damit ausstaffieren. Dazu die mir so unerwünschte erzwungene Rastlosigkeit. Immer wieder fliehen, mit den Wurzeln ausgehoben, ins Leere versprengt. Ich habe – darf ich wohl sagen - mein kleines Jahrhundert am Leibe erlebt, überstanden, vielleicht, und hocke nun allein inmitten meiner Besitztümer, die mir so unbegreiflich verlorene Gefährtin im Sinn, in einer vor lauter donnernder Freiheit unmöglichen Vereinsamung.
Das ändert die Sicht. Die ist kaum mehr mitteilbar. In einem Riesengespinst von Vorhaben und Vorstellungen wird sich mein Tod „erfüllen“. Ich habe zuviel Welt in meinen Umkreis gerissen, piratenhaft, darf ich sagen. Wie sollte ich überhaupt sterben können. Mein subjektives Empfinden leugnet das als Möglichkeit. Das Denken muß es einschließen als unabwendbar. Daß dann keiner mehr da ist, der das Andenken Yvonnes hütet, betrübt mich dabei am meisten.
Lieber W.H. Fritz, denken Sie mal an mich, wenn Sie – eines hoffentlich noch fernen Tages – in diese Zone Ihrer Selbstbewahrung geraten sind.
Ihnen beiden Herzliches
Ihres Helwig

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den 8. Nov. 81
Mein sehr lieber Freund Walter Helmut Fritz.
Es geschieht wohl nicht oft, daß ein Brief nach 5 Jahren beantwortet wird. Was ich hier schreibe, gilt nämlich einem Brief, den Sie am 4. April 76 an mich abschickten. Ich legte ihn damals, um des Wiederfindens besonders sicher zu sein, in die Seiten eines Gedichtbuches von Ihnen. Dieses verlor sich im Bord und kam mir erst heute, da ich mich einmal wieder rückblickend auf die Spur Ihrer Wortgefüge begab, in die Hände. Zunächst befiel mich das Zeit-Erschrecken. Die Jahre heben sich nach rückwärts hinweg mit einer Eile, die einen jenem unerwarteten, freudlosen Moment der sogenannten Letzten Dinge (ich bin jetzt 76) immer näher zudrängen. Für mich – wie für jeden heute wohl – fällt viel damit zusammen. Ganz summarisch etwa das Gefühl, mit nichts wirklich fertig geworden zu sein. „Sterben heißt, dies alles ungelöst verlassen“, wie Benn zuletzt feststellte. Dabei bin oder war ich einer, der gerne lebte. Aber das, woran sich das bewähren sollte, war in seiner Art stärker, unbezwinglich, darin zertrümmernd. Jener Sprachleib, den man in sich trägt und an dessen immer genauere Ausprägung man alle Kraft wendet, geht unaufhaltsam in die Brüche, taugt nur noch zur nüchtern-sachlichen Feststellung, zur Mit-Teilung und eben „ohne mehr“.
Meine erste Frau, verloren im ungeheuer grauen Nichts des Todes. Die als Zeugnis von uns beider Gewesensein übrig gebliebenen 2 Söhne: (...) ganz ins Weg- und Steglose geraten. Für mich eine bleibende Gequältheit. Meine Verdienstlage – um auch das zu erwähnen – ist dank den dauernden Umschichtungen im Pressewesen zunehmend zweifelhafter. Meine Pläne – lauter Angefangenes – bilden einen von mir lustlos betrachteten, mit den Füßen immer noch tiefer in die Ecken gestoßenen Haufen. Die Stimmung, die sie werden ließ, ist heute nicht mehr gültig. Das sogenannte Weltgeschehen legt sich erstickend darüber. Rilkes rührend trotziges „Hiersein ist herrlich“ wurde zum Spott. Die Idee, daß Sprache ein Auftrag sei und das mit ihr zu Sagende eine strenge Forderung zum Wohle der Dinge, die uns kurzfristig anvertraut wären..., wer kann ihr, aus ehrlicher Überzeugung, noch nachleben?
Dabei wäre ich eine „heitere Natur“, zeitweise obsiegt sie sogar noch und ich kann immer noch tageweise gute, gelingende Stunden haben. Aber im ganzen ist mir doch Brechts böses Wort am geläufigsten: „Ich hab eine Lust zu versaufen und ich hab eine Lust nicht unterzugehn“.
Dabei heirate ich in diesen Tagen zum 2. Male, weils einfach so nicht weitergeht.4 Eine junge, sehr liebe Frau, fast noch ein Mädchen, von der mir spürbar Kraft zukommt. Aber Kraft auf was hin, - das bleibt unbeantwortbar. Mich im vollständig Sich-Selbst-Genügen einrichten, ermutigt durch liebenden Zuspruch immer wieder noch „zu leisten“, mich in den Fragen der Vorgeschichte (Steinzeit usw.) einzunisten, um diesen Punkt ahnend aufzusuchen, wo alles begann und – im für uns Deutungslosen – zu verschwinden.
Höchst fesselnd, gewiß, aber jeder Funke Gegenwart, der da hineinzündet, legt erst mal alles wieder in Asche.
Dies alles Ihnen ans Herz gelegt mit dem Bestreben, Ihnen zu zeigen, daß Ihr damaliger Brief – vielleicht stehen Sie heute ganz woanders – nicht ins Leere geschrieben war.
Herz und Hand Ihres
Helwig

1 Walter Helmut Fritz (1929-2010), dt. Schriftsteller. Romane: ABWEICHUNG; DIE VERWECHSLUNG; BEVOR UNS SEHEN UND HÖREN VERGEHT. Lyrik: SEHNSUCHT u.a.
2 Der Titel lautet korrekt: VERSUCH ÜBER DIE PUBERTÄT
3 Yvonne Germaine Diem (1909-1978), Helwigs 1. Ehefrau
4 Gerda Heimes (1942-1998)












Werner Helwig an Alfons Hochhauser (> Alfons Hochhauser)

Alfons Hochhauser (1905-1981). Österreicher, aus der Jugendbewegung stammend, Freund Werner Helwigs. Lebte als Aussteiger in Griechenland. Vorbild der Clemens-/Xenophongestalt in Helwigs Roman RAUBFISCHER IN HELLAS. Führte mit Helwig einen erbitterten Streit um die Autorschaft des Buches.



Werner Helwig, Genf, an Alfons Hochhauser, Volos, P.O.B.28. 1959
(Teil der Prozessakte im Streit um RAUBFISCHER IN HELLAS)

1. Ich besuchte Dich – nachdem wir uns 1928 unter Wandervögeln kennengelernt hatten – im Herbst 1935 im Pelion. Nach meiner Gepflogenheit immer alles aufschreibend, was um mich herum geschieht, entstand ein Tagebuch, das unsere Begegnung schildert. Du erzähltest mir von den Dynamitfischern und Deinen Abenteuern mit ihnen. Mir kam die Idee, daraus einen Roman zu formen, Titel: Die Hellasfischer. Du ließest mich zur Ergänzung eine getippte Schrift von Dir lesen, die „Unsere Fischer“ hieß. Ich übernahm daraus, was Du mir selbst schon erzählt hattest, legte es Dir – im Roman – selbst als Deine Erzählung in den Mund und wandelte es im Sinne meiner Romanidee ab. Ich fuhr im Dezember nach Wiesbaden, um dem Roman Form zu geben. So ergab sich, dass ich meinen Besuch bei Dir mit allem schilderte, was ich bei der Gelegenheit erlebte. In das hinein flocht ich, als Dir in den Mund gelegt, Deine Lebensbeichte, soweit sie dem Roman diente.
Ein Brief von Dir nach Wiesbaden fragte an, ob aus meinem Buch etwas geworden sei. Aber Du äußertest Skepsis, ob man das Interesse jemandes dafür gewinnen könne. Der Brief ist bei den Akten.
2. Ich war länger als ein Jahr mit der Formung des Romans und der Verlegersuche beschäftigt. Verträge, Abmachungen, Deine Lebensbeichte betreffend, existierten nie zwischen uns. Wir waren junge Leute. Wir standen drohenden politischen Entwicklungen gegenüber, die uns beide zu Außenseitern machte. Jede Zukunft war ungewiss. Ein Briefwechsel, der auch auf meiner Seite vollständig erhalten ist (bei den Akten) brachte uns im Herbst 1937 zum zweiten Mal zusammen. Wir machten eine Fahrt mit Deinem Boot von Volos nach Nauplia. Wieder schrieb ich alles auf, was geschah. Zugleich lebten wir dabei von meinem Fixum, das mir der Albatros-Tauchnitz-Verlag, Paris (100.-Sfr. monatlich) zahlte, der mit mir über alle Bücher abschloss, die ich je geschrieben hatte und noch schreiben würde. Das Romanmanuskript „Die Hellasfischer“ hatten wir an Bord. Du halfst mir, die griechischen Fischerdialektausdrücke verbessern. Als Titel war mir jetzt „Raubfischer in Hellas“ eingefallen, weil der vorige Titel zu sehr an Pierre Lotis „Islandfischer“ anklang. Ich arbeitete noch eine Darstellung der verschiedenen Fischereiarten in den Raubfischertext hinein, den Dr. Hildegard Gans dann in Athen abtippte. Deine mündlichen Erläuterungen unterstütztest Du wieder durch eine getippte Darstellung, die Du mir gabst und die heute bei meinen Akten ist. Du sandtest mir einmal sogar von Dir gezeichnete Pläne über den Pelion und eine Auflistung griechischer Namen für Winde (bei den Akten), damit alles seine Richtigkeit habe in den Büchern. Denn bereits war das zweite geplant: „Im Dickicht des Pelion“.
3. Das dritte Buch aber schrieb ich auf dieser Fahrt zwischen Volos und Nauplia: „Reise ohne Heimkehr“. Wie in den Raubfischern ist Dir auch hier jene Erzählung in den Mund gelegt, die Du mir anhand der Häfen und Inseln und Orte, die wir besuchten, entwickeltest.
Du erzähltest mir, Kapitän Dimitri habe Dir die Geschichte vom Poseidon mitgeteilt. Mein Buch berichtet den Entstehungsvorgang wörtlich: Du berichtend, was Dimitri Dir erzählte, ich aufschreibend, was Du berichtet. Auch in diesem Falle gab es eine Niederschrift von Dir, die Du mir zur Ergänzung des Gehörten (und zugleich gemeinsam Bereisten und Erfahrenen) aushändigtest. Dass wir zur See fahren und ich Bücher darüber schreiben würde, war uns selbstverständlich. Wir gerieten manchmal aneinander. Aber nie in Sachen „Dichten“, wie wir es nannten. Auch in diesem Falle gab es keinen Anlass, Verträge abzuschließen. Wir waren jung, waren sozusagen Bohémiens und wussten nicht, was kommen sollte, aber ahnten es. Die Reise scheiterte an den Schwierigkeiten, die Dir die Behörden bereiteten. Die Weltlage warf ihre Schatten voraus. -
In Deinen Stellungnahmen fehlt nun nie der Vorwurf, dass ich kein freigiebiger Freund gewesen sei. Das lag daran, dass ich damals noch weniger Boden hatte als Du. Mir stand meine Feder und ein unsicheres Fixum zur Verfügung, um außerhalb der Heimat zu bestehen. Das Fixum erlosch dann auch pünktlich mit Kriegsausbruch. Du aber hattest, solange nicht Krieg war, mehr Boden als ich, indem Du ein Boot besaßest und durch Deine Verbindung mit der Fischerei gewisse existentielle Sicherheiten hattest. Dass ich einmal für die Neuausrüstung, ein andermal für die Renovierung Deines Bootes aufkam, erwähne ich hier nicht als verdienstlich. Da ich mit Dir reisen wollte, diente es ja auch mir.
Niemandes Lage damals war rosig. Und wenn ich – irgendwo in Schwierigkeiten geraten – Dich damals um Hilfe angegangen wäre, hättest Du mit dem Hinweis auf eigene Schwierigkeiten abgelehnt. Unter solchen Spannungen kamen auch unsere gelegentlichen Charakterkonflikte zustande. Sie hinderten uns nicht, uns immer wieder von neuem zu suchen, da wir einer im andern irgend etwas nie Wiederkehrendes, Urverbindliches ahnten.
4. Unser dritter gemeinsamer Start begann 1938 in Jugoslavien und führte bis Korfu. In der Zwischenzeit hatte ich Dir einige Male mit Geld ausgeholfen. Deine bestätigenden Briefe liegen bei den Akten. Es war nichts besonderes, aber mehr als 100 Sfr. monatlich hatte ich selber nicht zur Verfügung. Und die journalistischen Einkünfte aus Deutschland fielen aus, weil ich der Reichsschrifttumskammer nicht angehörte. Auf dieser Reise war nun das in Paris hektographierte Raubfischerexemplar an Bord. Hier kritisiertest Du den Totschlag am Psarathanas und das Goldschatzmotiv. Du wolltest Wirklichkeit. Ich wollte Roman. Mein Verlag wollte auch Roman. Und da ich ja auf Grund des Generalvertrages auf alle meine Arbeiten von ihm lebte, war ich daran gebunden, den Roman so zu belassen, wie er in Vertrag genommen worden war. Deine Rügen, auch in Deinen Briefen, galten nie dem Erscheinen des Romans als solchem, sondern nur dem Totschlag und dem Goldschatz. Motive, ohne die nach künstlerischem Ermessen kein Roman dieses Genres hätte zustande kommen können. In dieser Zeit spielte sich auch ein Streit zwischen uns über die von Dir ausgegangenen Impulse zur Entstehung des Romans ab. Wir riefen als Schiedsrichter zwei uns befreundete Männer an, den Dichter Rudolf Pannwitz und den Maler Conrad Westphal. Pannwitz entschied gegen die Schatzgräberei, aber nicht gegen den Totschlag und stellte fest, dass ich der Begegnung mit Dir meinen schriftstellerischen Durchbruch verdankte und wir einander zu würdigen hätten. Eine Empfehlung, der Du insofern nachkamst, als Du mich 1958 in einem Brief an eine mir vollkommen unbekannte Dame, Madame Kazantzakis, als Kriminellen bezeichnetest. Und Conrad Westphal kam zu dem Schluss, dass gerade da, wo mein Text dicht neben Deine Worte rückt, offenbar würde, „was eigentlich künstlerische Gestaltung“ sei. Er greift den Text dort an, wo er filmhaft wirkt, und nennt das nicht ohne Recht „die Durchlöcherung des Kunstwerkes“. Mir aber scheint, dass das Buch deswegen Anerkennung fand, weil ich unbeirrbar meinem Kunstinstinkt folgte. Beider Briefe bei den Akten und ergänzend noch einen dazu von Frau Inge Westphal, die mich davor warnte, jemals finanzielle Dinge zwischen uns treten zu lassen. Von solchen war auch nur insofern die Rede, als ich Dir nach Möglichkeit Beihilfe versprach. Was hätte ich auch anderes tun können. Das politische Barometer stand auf Taifun. Der Verlag ließ mich wissen, dass das Buch vorläufig nicht erscheinen würde.
5. Als der Roman dann von Asmus übernommen wurde und in Deutschland in den Druck ging, befand ich mich in Zürich. Der Krieg war ausgebrochen, jede Zukunft war fraglich, mein Pariser Fixum hörte auf und ich stand mittellos da mit der Belastung des zum Teil von uns beiden gemeinsam verlebten Fixums, das auf mein Honorar verrechnet wurde.
Ich änderte wunschgemäß den Totschlag in einen durchaus verständlichen Notwehrakt um. Die Schatzgeschichte war der Spannungskurve zuliebe unentbehrlich. Dein letztes Schreiben erreichte mich 1940. Der Roman lag vor. Du moniertest den Totschlag, der ja jetzt ein Notwehrakt geworden war. Für mich hatte es eine ungeheure Arbeit bedeutet, dass jetzt endlich das Buch da war. Es verstimmte mich, dass Du am Text herumzerren wolltest. Mehr erfolgte in dieser Sache nie. Die Raubfischer erschienen in Deutschland bis 1958 von Dir völlig unangefochten. Weder bei meinem Verleger Asmus, noch bei mir traf irgendwelche Kunde von Dir ein, während ich in dem Buch von Hans Hass las, dass Du dank den „Raubfischern“ zu dessen Mittelmeer-Forschungsreisen angeworben wurdest. Ich schrieb – mit gewichtigem Anlass und um die Beziehung zu Dir wieder aufzunehmen - einen Brief postlagernd nach Genua, der Dich aber nicht erreichte und mir zurückgeschickt wurde. Er liegt ungeöffnet bei den Akten mit allen Stempeln und Zubehör.
6. Ich hatte somit keinen Grund, eine Filmoption auf den Roman Raubfischer abzulehnen, die hier in Genf zwischen mir und dem Filmautor Ulbrich zustandekam. Dein Name spielte die große Rolle dabei und Ulbrich erwähnte, dass es möglich sei, Dich mitsamt dem Hass-Expeditionsschiff für diesen Film zu chartern. Die Filmsache erlitt anscheinend raubfischerhafte Schicksale, denn ich hörte überhaupt nichts mehr davon. Bis Du mich plötzlich durch Rechtsanwalt Dr. Wehser, Hamburg, zum erstenmal seit dem Auftauchen meiner Romanidee 1935 mit Urheberrechtsfragen beschäftigtest. Es ist da von widerrechtlich angeeignetem Stoff die Rede, eine Behauptung, der Deine eigenen, bei den Akten befindlichen Briefe entgegenstehen. Gleichzeitig nahmst Du Beziehung zu den Filmleuten auf – nach mehrfachem Hafenwechsel ist es die Telefilmgesellschaft, die den Roman auswerten will – und legtest ihnen nahe, den Film nicht nach dem Roman, sondern nach Deinem Lebensbericht zu drehen. Die Filmleute aber hatten sich auf die Romanidee versteift, die sie überdies für Maria Schells schauspielerische Meisterschaft als Spielfilm hergerichtet hatten. Ich selbst bin nie über die Realisierungsabsichten unterrichtet worden und erfuhr dies nur aus Zeitungsnotizen, die Freunde mir zuschickten. Da kein Projekt ans Ziel kam, musste ich annehmen, dass die Rechte mir wieder zugefallen wären und auch mein Anwalt Dr. Haalck (siehe dessen Briefe) vermutete dies zunächst. So lagen die Dinge, als Du hier am 1. März 1959 in Genf auftauchtest und wir uns auf ein gemeinsames Vorgehen in der Filmsache einigten. Denn auch ich hätte die Raubfischer gern anders verwirklicht gesehen. Jetzt erklärte mir indessen Dr. Haalck, dass die Option Geltung habe, da von mir eine Nachzahlung auf den Film – insgesamt 5000.-DM – angenommen wurde. Gleichzeitig ließ Dich der Filmproduzent wissen, dass zwar Deine Mitarbeit erwünscht, aber der Film im Sinne des Ulbrichschen Drehbuches auf Grund des Romans gemacht werden würde. Wir beide aber hatten verabredet, dass die Gesamt-Filmeinkünfte (15.000.- DM) zwischen uns aufgeteilt würden, insofern als aus Deiner Lebensbeichte die führende Filmidee zu entwickeln sei.
7. Dabei soll es auch bleiben, so wie sich die Lage jetzt entwickelt hat. Da Du positive Verbindung zu den Filmleuten hast, bin ich sicher, dass man dem Spielfilm einen Dokumentarfilm ganz Deiner Prägung folgen lassen könnte. Ja, der Spielfilm sollte diesen erst richtig ermöglichen.
8. Für Deinen Dokumentarfilm steht Dir das, was Du seit 1958 als Dein „geistiges Eigentum“ in den Raubfischern und in „Reise ohne Heimkehr“ bezeichnest, zur Verfügung.
9. Ich bitte Dich daher, mir in einem Exemplar der Raubfischer jedes Wort anzustreichen, das für Dich nachweisbar in diesen Zusammenhang gehört. Ich habe die Raubfischerrechte zurückgenommen und will kein Wort mehr darin haben, das Deine schriftliche Lebensbeichte betrifft, sofern sie nicht romangerecht von mir abgewandelt wurde. Auch Dein Übername „Xenophon“ wird ersetzt. Ferner hast Du mir angedeutet, dass Du, da Dich die griechische Polizei mit dem Roman identifizierte, Schwierigkeiten hattest. Auch diesen Dingen werde ich durch Umwandlung entgegenwirken. In „Reise ohne Heimkehr“, 2. Auflage, wird die Poseidongeschichte, soweit sie den 3 von Dir fixierten schriftlichen Seiten ähnelt, verschwinden. Ich gebe Dir die Dinge mit dem heutigen Tag so bedingungslos zurück, wie Du sie mir damals gegeben hast. Und ich gebe Dir meinen letzten Filmanteil dazu, wenn wir damit ein für alle Mal aus der Sphäre des Auf- und Abrechnens heraus sind, um einander wieder als Menschen gegenüberzustehen anstatt als Verdächtigungsvehikel.
Die Fakten Deiner Lebensbeichte haben – da wir vertraglich nie gebunden waren – nie aufgehört, zu Deiner Verfügung zu sein. So hast Du ja auch einen großen Teil Deiner Lebensbeichte durch Hans Hass, in dessen Buch „Menschen und Haie“ neu zu Gehör gebracht und nichts hätte Dich seit Erscheinen des Raubfischerbuches gehindert, eigenen Filmplänen nachzugehen, wenn sich Dir die Möglichkeit dazu geboten hätte. Der Hinweis im Nachwort der Kriegsauflagen der Raubfischer bot Dir die Handhabe, das Deinige in eigene Regie zu nehmen. Ich habe mich um Filmverwirklichungen nie gekümmert. Man kam zu mir.
10. Unsere damaligen gemeinsamen Pläne, wie wir sie erträumten, haben sich nicht realisieren lassen. Und die Bemerkung Deiner letzten Briefe von Anfang 1939 (bei den Akten) „Schließlich wirst doch Du es sein, der meine Lebensbeichte schreibt“ haben wir durch getrennte Wege und Schicksale nicht wahr machen können.

Ich grüße im Geiste unserer Genfer Abmachungen


Laut Vertrag vom 6. Dezember 1960 musste sich Hochhauser verpflichten, „ keinerlei falsche Gerüchte mehr zu verbreiten, was die Entstehung des Buches ‚Raubfischer in Hellas’ (betrifft), dessen alleiniger Autor Herr Helwig ist“. Da er jedoch weiterhin die These verbreitete, Vater der Raubfischer zu sein, wurde ihm dies notariell untersagt (18.5.1961).
1979 trat Hochhauser wieder in Kontakt mit Helwig. „1979 wäre für uns also das Jahr des wieder Zusammenkommens. Lass uns das nächste, in dem ein 8 ist (Acht u. Bann!) ein Jahr zu gemeinsamer Arbeit machen!“ – so Hochhauser an Helwig.










14.3.80

Lieber Alfons
Jenes Foto, wo die Natur Dich mit diesem herrlichen Nachtfalter ehrt, bringt Dich mir sehr nahe. Ich halte es für das schönste, am meisten Dein Wesen erläuternde Bild. Es bestätigt mich in meiner Verehrung für Dich, Dein Leben, Deine Sicht auf die Welt, Deine Vorhaben.
Du fragst mich und Dich, ob ich wohl reifer geworden sei. Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich in aller Ehrlichkeit darauf antworten könnte. Tatsächlich verhält es sich wohl so, dass die Schicksale an dem, was ich bin, ziemlich kräftig herumgehämmert haben. Ob mein „Kern“ dabei bloßgelegt worden ist, frage ich mich selbst. Bestimmt bin ich in vielen Dingen Deiner Meinung.
Lebensführung, Freude an der Schöpfung, in die wir für unsere kleine Lebenszeit gestellt sind. Und die Sorge, wie man am besten dieser Schöpfung, soweit sie noch unversehrt geblieben ist, beiste-

  
Alfons Hochhauser

Foto aus dem Nachlass von Werner Helwig, 
der dieses Foto besonders liebte.
Alfons Hochhauser







hen könnte. Und was man denen, die nach uns kommen, raten könnte, damit sie pfleglich bewahren, was dann noch da ist: dafür trete ich auf meine Art, die eben die Art eines Schreibmenschen ist, entschieden ein. Nun bin ich ja in meiner Urveranlagung eher Poet als Journalist. Journalist wurde ich im Zwang meiner Erwerbssituation, für 4 Köpfe Brot zu schaffen.
Und immer noch sinds 2 Köpfe, für die ich sorgen muss. (...)
So sitze ich also da und halte die „Festung“, halte zahlreiche Beziehungsfäden zu Redaktionen, Verlagen usw. in der Hand, damit die Existenzmittel sicher gestellt sind. Bei diesem sesshaften Leben bin ich natürlich den Bauch nicht losgeworden, den Du damals in der Rue de Carouge schon an mir feststelltest. Sonst fehlt mir nichts.
Lebe ohne Brille und ohne Medikamente in meiner Bibliothek von 2000 Bänden, die sozusagen der Acker ist, den ich bestelle und aus dem ich mir Bestätigung gewinne. Im Sinne Deiner Vorhaben, die ich bejahe, wärs mir aber gewiss nicht möglich, mich z.B. auf die „Yacht“ einzuschießen und Propagandarufe zu verfassen oder Zeugnis von Deiner Lebenseinsicht zu geben. Dass die mich völlig überzeugt, ist ein anderer Fall. Du überzeugst mich durch das, was das Leben aus Dir gemacht und was wiederum Du dem Leben zurückgibst. Gewiss könnte ich Deine Werbeschriften und Manifeste ins Reine arbeiten, wenn Du das wünschst, auch hier und da Hinzufügungen vorschlagen, aber ich möchte hier nicht unsere Wohnung und die mit ihr sich verbindenden Arbeitsbeziehungen aufgeben.
Und wenn ich Dich richtig verstehe, möchtest Du mich, wie seinerzeit de Gaulle den Schriftsteller Malraux in sein Kabinett als Kultusminister holte, in Deinen Wirkbereich stellen und kontinuierlich zur Verfügung haben. Du willst den Wolkenwanderern, Paddelsportlern, Waldläufern und Campingbe- flissenen, Fahrradclubs und Hochtouristen eine Wasserwanderervereinigung entgegenstellen. Als Lebensgrundlage das Fischerboot, das von einem Mann allein, ohne Motor, gemeistert wird, wie Du es ein Leben lang bewundernswert verstandest. Wünschbare Idee, aber wird man sich immer konsequent an Deine Richtlinien halten? Und die letzten unberührten Ufer würden damit automatisch zu den ersten berührten mit Nachfolgerschaften, so wie das heute in der Massengesellschaft üblich ist.
Du erhofftest Dir erzieherische Wirkungen davon, die ja durch Deinen eigenen Entwicklungsgang verbürgt sind. Du möchtest etwas weitergeben als Summe Deiner Lebenserfahrung und als Dein Vermächtnis. Das hat Größe, ehrt Dich, aber wie wäre der Missbrauch Deiner Intentionen auf die Dauer abzuwenden? Dass unsere Welt ihren selbstzerstörerischen Weg weitergeht, trotz aller Warnungen, ist sicher. Wie lange wir beide noch leben, ist unsicher. Wird die Zeit reichen, die Dinge in Deinem Sinne noch auf die Beine zu stellen? (...)


Die von Hochhauser gewünschte Zusammenarbeit mit Helwig kam nicht zustande. Doch führten beide bis zu Hochhausers Tod 1981 einen regen freundschaftlichen Briefwechsel.

In „In memoriam Alfons Hochhauser“ schrieb Helwig 1981 über den „Schicksalsgenossen und Streitgefährten“: „Was Hellas ihm ein Leben lang wurde, was dieses Hellas mir, durch ihn hindurch, gab (...) Durch mein Mitgerissensein verwandelte es sich in Sprache. Er hat es mich oft wissen lassen, dass mir das, durch unser beider Medium bedingt, gelungen sei. Er sah es sogar zwillingshaft – Kastor und Pollux – als ein in Klima und Bewegung gemeinsames Werk, woraus er dann naiv, wie er in seiner Art eben auch war, Rechte für sich ableitete. Konflikte, die uns an den Rand einer törichten Feindschaft brachten. Doch schließlich einte uns die gemeinsame Passioniertheit zum Guten und Zukünftigen hin. Wir fanden wieder zusammen, und er plante Neues auf ein heutiges Hellas hin: Wir sollten, so wünschte er sich, jene von mir in den ‚Raubfischern’ entworfene Fischerinnung in anderer Richtung verwirklichen: ein Club von hellasverbundenen Menschen aus aller Welt sollte konstituiert werden mit dem Ziel, die griechischen Meere in griechischen Fischerbooten rudernd und segelnd zu erkunden. Er erhoffte sich davon eine Art von positivem Tourismus, der für die Griechen zugleich einträglich, das heißt auch wirtschaftlich ergiebig sein sollte und rettend durch Beispiel und Propaganda für Reinhaltung der Natur und zum Schutz der Fischgründe.“












Aus dem Briefwechsel zwischen Werner Helwig und Hai Frankl (> Hai Frankl)

Hai (Heinrich) Frankl, am 14.02.1920 als Sohn jüdischer Eltern in Bad Charlottenbrunn in Schlesien geboren, ab seinem 12. Lebensjahr in Wiesbaden lebend, dort als 13-Jähriger in einer Gruppe des Nerother Wandervogel mit Werner Helwig bekannt geworden und seitdem einer seiner engsten Freunde


Korrespondenz aus den Jahren des Krieges 1939-1945








Werner Helwig befand sich kurz vor Kriegsbeginn, Ende August 1939, als Emigrant in Zürich; Hai Frankl konnte 3 Tage vor Kriegsausbruch nach Schweden emigrieren.











Zürich, an meinem 35. Geburtstag, den 14.1.40

Schon um meinetwillen, mein Lieber, hast Du die Pflicht weiterzuleben, weiterzudenken, weiterzudichten, was glaubst Du, sollte ich wohl machen, ohne das Bewusstsein, dass es Dich irgendwo gibt.
In immerwährender Verbundenheit
Dein Werner Helwig










Mölnbo, 22. II. 40
Lieber Werner,
am schwersten fällt es mir immer, wenn ich Dir schreiben will. In Gedanken tu ich es oft und lange, aber beim Schreiben wird es nicht immer, wie es soll. Hoffentlich hast Du mir verziehen, dass ich das genaue Datum Deines Geburtstages vergaß, obwohl es das gleiche wie mein eigenes, nur einen Monat früher, ist. Meine innigsten Wünsche sind immer bei Dir. Dein Geschenk erfüllte mich ganz mit silbernem Glück. Und nun bin ich sogar wieder ein bisschen stolz. Wenn Du mir ab u. zu mal ein paar Worte sendest, so bin ich froh. Sie können immer wieder mich aufrichten. Und manchmal klapp ich verdammt zusammen. Möchte wissen, wann endlich mal die Befreiung kommt aus diesem ewigen Krampf, in dem ich mich befinde, u. [man] mal ganz frei atmen kann u. so ist, wie man sein will, u. nicht immer gezwungen ist, über seine Nichtigkeiten nachzudenken.
Aber auch Schönes gibt es hier. Allein auf Schiern durch die tief verschneiten Wälder zu gleiten oder über die weiten Seeflächen unter wilden bunten Abendhimmeln dahin. Die Farben sind oft so verrückt, dass man körperlichen Schmerz dabei empfindet. Scharlach, scharlachrot mit hellgrünen Teichen darin; der Schnee fängt an zu blühen ... Begegnung mit Elchen, den dunklen Tiergöttern des Nordens mit ihren so schmalen Hufen u. dem verzaubernden Blick. – Aber die Beglückung, die ich dabei empfinde, ist doch immer mehr ein Schmerz.
Die Arbeit des Tages ist Holz hauen u. sägen im Wald. Trotz tiefem Schnee u. Kälte. (...) Wir hatten eine Woche - 30º. Raus gehen wir aber erst bei - 14º, da geht es. (...). Gerade die kalte Woche hatte ich Dienst. Jede Nacht um 3 raus (...) Man lernt den Schlaf einschätzen dabei, süß u. fett ist er die nächste Woche. Langweilt Dich, was ich Dir hier alles erzähle? Ich glaube oft eine gewisse sterile Infantilität bei mir zu bemerken.
Viele seltsame Bücher las ich die letzte Zeit. Kennst Du „Tante Tala“ von Miguel Unamuno?. Man spürt irgendwie die alten heidnischen mutterrechtlichen Kulte im modernen Licht u. aus dem Katholizismus herausbrechend. Er hat eine so fesselnde Sprache. Ganz karg u. doch oft so wie harte Strahlen. Unamuno ist ja Baske u. die alten Basken waren mutterrechtlich.
Ist es dumm, wenn ich sage, dass Deine Waldregenworte (...) mehr sind als Dichtung, - Zaubersprüche eines ganz neuen, bis ins äußerste verfeinerten Animismus. Neue Religion.
Nun Schluss, dass Du nicht zu ärgerlich über mich wirst.
Vielleicht erreiche ich es aber doch, in abseh- oder unabsehbarer Zeit wieder Deine sternhaften Schriftzeichen auf meinem Frühstücksteller liegen zu sehen, bei deren Hinblick mir immer noch wie „in den ganz alten Zeiten“ das Herz klopft.
Dein getreuer Heinrich










14.1.41, Sportfältet 23, Lahäll-Stockholm
Lieber Werner,
heute bekam ich von Sherry [Erich Brand aus der Wiesbadener Nerothergruppe] den ’Gefangenen Vogel’ [eine 1940 erschienene Novelle von W. Helwig] geschickt. Da wurde ich natürlich sehr an Deinen Geburtstag erinnert. Meine Wünsche kommen zu spät, sind aber umso inniger. Es ist wirklich eine große Beruhigung, dass in solchen Zeiten so etwas noch gedruckt wird. Es hat mich innerlich wieder etwas aufgerichtet und den Glauben an das Unvergängliche gestärkt. Hab auch Dank für das Gedicht ‚ut misterii postulatum ratio’, das mich im Spätsommer erreichte. Ich hab so lange nicht geschrieben, da es wohl immer nur traurige u. verwirrte Briefe geworden wären (...)
Immer Dein alter Heinrich










(Zürich, Frühling 1941)
Mein geliebter Bruder Heinrich.

Große glücklose Zeiten. Man lebe auf Fingernagelsbreite u. mache aus jedem Atemzug ein Fest. Nur eines bringen die Zeitungen nicht fertig: einem die Träume auszulöschen. Da verbringe ich manche Nacht die seltsamsten Stunden. (...)
Bin jetzt dazu übergegangen, parallel zu den Zeitereignisse ein Traumtagebuch zu führen. Mach doch das auch mal. Schon nach 14 Tg. enorm fesselnd, zurückzulesen.
Frühling. Warme Luft. Sommeranzüge. Leichte Schuhe. Mit einem Herzen, das wie eine tote Krähe in meinem Brustkasten bei jedem Schritt hin- u. herschlappt, eile ich durch die Straßen. Der Schnurrbart der Witwe, die letzte Quelle meines Humors. [Anspielung auf Hitler]
Mein lieber Junge, - wenn ich da überhaupt Worte zusammenzähle zu einer Geschichte („Wallfahrt nach Mykenae“) [Reise ohne Heimkehr], so denke ich dabei an Leute wie Dich, Zick [Herbert Nieder aus der Wiesbadener Nerothergruppe], Floh [Gerhard Wüstenfeld aus der Wiesbadener Nerothergruppe] u. noch ein paar. Hannes [Bolland aus der Koblenzer Gruppe in Koblenz, der Freundschaftsgruppe der Wiesbadener und aller um die Waldeck]. Na, wolln sehn, wann wir die nächste Flasche zusammen aushöhlen.
Indem ich dies betrachte, grüßen mich ringsum die 7 Gesichter Deines Fotos (...). Ich betrachte u. lächle, betrachte u. lächle. Wie erstaunlich u. feierwürdig, dass man immer noch da ist. Sind es 1000 Jahre, 2000? 3000? Ich weiß es nicht.









Anlage zu diesem Brief das Gedicht „Heimblick 1941“ von Werner Helwig:

Noch immer, wie sonderbar / gehn die Füße, / blicken die Augen, / doch in den Brauen / wächst schon graues Haar. / Die Zeiten, die ich erwartete / sie waren schon vorbei / während ich die Hand noch über die Stirne hob, / nach ihnen spähend. Die Freunde: bei den Gewehren. / Ich: bei der Feder .../ der alte schnüffelnde Wolf / der Träume und Mythen, / mit Zähnen, lang u. gelb, / einer Zunge, nass u. lüstern / unermüdlich / auf der Suche / und zerfleischend, wo ich sie treffe / die Leiber der steinernen Götter. / Hussa! Apolls marmorne Wade / soll mein Abendbrot sein. (Dies schrieb ich auf, während Zick in der Beton-Krypta dem Echo seines Herzschlags lauscht)










Daguhildsborg, d. 18.II.1944

An: W. Helwig Triesen Fürstentum Liechtenstein [Helwig lebte nach Ausweisung aus der Schweiz im Exil in Liechtenstein]
Lieber Werner. Vielen Dank für die Karte vom 1.II. Große Freude mal wieder von Dir zu hören. Deinen vor 2 Monaten, jetzt sind es wohl 3, geschriebenen Brief habe ich leider nicht erhalten. Schade. Hätte ihn wohl brauchen können. (...) Die Stimmung schwankt zwischen tiefster Niedergeschlagenheit und ab und zu wilder aufkeimender Lebensfreude. So sucht man Trost in den einfachen kleinen Freuden. Das Sonntagsmorgen Frühstück ist jedes Mal ein Sakrament mit einer guten amerikanischen Zigarette zum Kaffee. Solange die einem noch schmeckt, kann man noch nicht verloren sein. Auch Mozart und Haydn sind getreue Helfer beim „Aufrechterhalten des Herzens“ [Titel einer Hymnensammlung von W. Helwig] – wir gönnen uns ab u. zu mal eine der zauberhaften Platten. (...) Auf der Schule aber geht es langsam doch vorwärts. Das Zeichnen fällt mir schwer, es dauert lange, aber wenn es fertig ist, wird es doch immer einigermaßen. Vielleicht ist es nur Ungewohntheit. Ich werde mich wahrscheinlich jetzt auch in Museen u. alten Schlössern rumtreiben müssen u. Rokoko- u. Renaissance-Möbel abmessen u. im verkleinerten Maßstab aufzeichnen. Manchmal überkommen mich auch schon wieder Zweifel, ob das das Richtige für mich ist. Aber irgend etwas muss man ja schließlich machen u. vielleicht wird das doch ein Beruf, indem man mal ein bisschen künstlerische Fantasie entfalten kann. Am ersten Mai ist [mit der] Schule Schluss u. [sie] fängt erst am 1. Okt. wieder an. In der Zwischenzeit bekommen ich keine Unterstützung (...). Könnte da gut meine 1000 Kronen gebrauchen, die ich im vorigen Sommer versoff. Na, aber das war auch notwendig [nach der letzten Nachricht von den? oder über die? 1942 wahrscheinlich über Litzmannstadt oder Theresienstadt nach Auschwitz deportierten Eltern]
Mir fällt ein, dass Du irgend wann mal in den letzten Wochen Geburtstag hattest. Nachträglich meine besten Wünsche, ich hatte nämlich auch, deshalb fällts mir ein. Ich erwarte mit Freunden Deine „Wortblätter“, ist das „Waldregen“? Schreib alles, was Du von den Freunden weißt. Und bald.
Immer Dein alter Heinrich










(Ohne Datum, wahrscheinlich 1945)
Lieber Hay[!].
Ich hoffe, dass ich Dich auf diesem Weg doch noch erreiche. Warum hast Du gar nichts mehr von Dir hören lassen? Es wird ja jetzt langsam Zeit, dass wir Ausschau halten nach den Freunden u. wer nach der Sintflut übrig geblieben ist. Paul Leser befindet sich als Mitglied der USArmy in Frankfurt. Richard Lohmann erreichst Du unter der Anschrift: R. Hoirüs, Rungstd, Kyst. Danmark. Wolf Kaiser u. Karl Oelb [Oelbermann] unter Darling Court, Belgravia, Johannisburg Suedafrika. Paul Birum nach wie vor unter Berlingen, Schweiz. Von Tali’s Söhnen ist einer gefallen. Weiss nicht wer. Unsere ganzen Wiesbadener sind tot. Einzig von Sherry weiß ich nichts genaues.
Die ganze Familie Bolland ist tot. Da Hannes B. in letzter Stunde, leider, noch als Austauschgefangener nach Deutschland kam, ist auch sein Schicksal ungewiss. Ebenso kann Mori noch nach D. u. wir hören seither nichts mehr von ihm. Meine Hamburger sind alle tot. Mein Vater ist tot. Von meiner Mutter weiß ich nichts genaues.
Was wohl insgesamt vom Bund noch übrig blieb!
[Einige der zu diesem Zeitpunkt von Helwig Totgeglaubten haben den Krieg überlebt]
(...) Deutschland [wird in 1-2 Jahren bestenfalls] um die Hälfte seiner Bevölkerung vermindert sein. Ich persönlich rechne ja mit höchstens 20 000 000 Überlebenden. Dann sind wir als Volk klein genug, um ein für alle mal vom Schachbrett imperialen Wahnsinns zu verschwinden u. könnten uns ganz einer verinnerlichten Kultur widmen.
Ich hoffe, dass Du Dein Stipendium gut verwertet hast u. heute ein perfekter Innenarchitekt bist. Bleibe in Schweden so lange wie möglich. Ich u. meine kleine Familie möchten auch gern hinkommen. Wie siehst Du die Möglichkeiten?
Baldige Antwort erhofft
Dein Werner










Korrespondenz aus dem Jahre 1983









(Genf) 25.1.83
Lieber Hai, liebe Topsy, fahrende Spielleute beide, Hai aus bündischem Geblüt, der Gruppe des NWV in Wiesbaden (in der Zeit des Aufkommens der Nazis) stammend, Topsy, eine Schwedin mit lappischer Zutat, Journalistin, Sängerin, - Hai ursächlich dem ältesten und schwierigsten Volk der Welt zugehörig. So schwierig wie schöpferisch: Autoren der Bibel, Dichter der Klagelieder und Psalmen, musikantischen Wesens und darin wirkend, wohin auch immer der Schicksalswind sie treibt. Ich muss euch – Freunden seit 40 Jahren – einen Dankesbrief schreiben. Grund ist eine Platte, die hier in Genf, aus Schweden kommend, überraschend eintraf.1
Zu geeigneter Frist, nachmittags beim Whisky, legten wir sie auf. Bald stellte man das Glas aufs Tablett zurück, drehte den Gemütlichkeitssessel zum Apparat, regulierte die Klangqualität, bis das Äußerste an Reinheit und Genauigkeit erreicht war. Denn was da hervorscholl, war unter allem, was wir in letzter Zeit an Musikdarbietungen aus der „Scene“ über uns ergehen ließen, das Äußerste an durchgearbeiteter, gleichsam feinstofflicher Delikatesse. Das Duo Hai und Topsy, ohnehin schon und mit Recht berühmt, gewann hier die höchste Stufe, die menschlichem Können möglich ist. Mit gesparter Instrumentierung: Gitarre, Violine, Fagott und Ziehharmonika, werden da Klangbilder aufgebaut, in denen Liedgut der ostjüdischen Tradition aus ihrer gelegentlichen Behelfsmäßigkeit ganz ins Klare übertragen sind.
Erst hört man noch so etwas nachlässig zu, bereit, sich angenehm unterhalten zu lassen, dann reißt es einen hinein, man fällt von einem Erstaunen ins andere, um sich schließlich ganz und gar überwältigt zu finden. Kommt hinzu, dass viele der Melodien aus der Welt des Balkans, zumal der neugriechischen geschöpft sind. Das kommt ihnen – für unser Ohr zumal – zugute. Aber die beiden Darbietenden haben sich derartig liebend dahinein gesteigert, die liebliche Stimme Topsys ergänzt sich auf so raffinierte Weise mit der führenden Hais, dass man innerlich ganz starr wird vor Ergriffenheit. Dass einigen der Lieder eine gewisse werbende Sozialtendenz innewohnt, was sich auch in ihren Titeln ausdrückt: „Arbeitslosenmarsch“, „Wacht auf ...“, „Partisanen-Marsch“, hatte seine Berechtigung in jener Zeit, da sie gesungen und populär wurden. Dass diese Gegebenheiten heute ganz anders liegen und eine veränderte Stellungnahme erfordern, übt hier keinen Störeffekt aus, es gehört einfach zum Impetus, der diese Texte Gestalt werden ließ. Was unter den Händen und durch die Einfühlungsgabe der beiden Interpreten daraus wurde, trägt die Dinge in eine Sphäre der absoluten Kunst hinüber.










27.1.83
Liebe Freunde. Aus diesem Brief möchte ich eine Rezension eurer Platte entwickeln. Bitte streichen oder ergänzen, was falsch ist. Hinzufügen, was euch wichtig erscheint u. an mich zurück ...









5. März 1983
Lieber Werner, wir kommen gerade von einer Tournee in Schweden zurück, daher kann ich Dir erst jetzt antworten. Wir waren überwältigt von Deiner „Rezension“ und auch überrascht und gerührt. Sie ist fast zu gut. Aber ich wüsste nicht, was ich da noch ändern sollte ... Unser jiddisches Konzert im kleinen Saal des Stockholmer Konzerthauses war ein voller Erfolg ... Jetzt üben wir für eine Tournee in Deutschland ... in Wiesbaden ... Es wird sehr eigenartig sein für mich in Wiesbaden auf der Bühne zu stehn. Vom dortigen Bahnhof gingen zwei Züge: Einer nach Norden und in meine Rettung und einer nach Osten mit meinen Eltern in den Untergang.2
Dort lebten aber auch unsere alten lieben Freunde ... Wie gern würden wir mal eine Helwig-Platte machen. Das ist ein alter Traum von uns ...3

1 Wacht Oif! Jiddische Arbeiter- und Widerstandslieder. LP. FolkFreak 1982
2 Hai Frankl konnte 1939, drei Tage vor Ausbruch des Krieges, nach Schweden entkommen. Seine Eltern wurden 1942 wahrscheinlich über Litzmannstadt oder Theresienstadt nach Auschwitz ins Konzentrationslager deportiert und ermordet.
3 1988: Werner Helwig, Lieder. LP. Thorofon; 1996: Werner Helwig, Lieder. CD. Thorofon; 2000 Spätlese. 4 CDs in Box. Thorofon (CD 3: Lieder von Werner Helwig nach Texten von Berthold Brecht und Werner Helwig)